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Nein, im Titel steckt kein Tippfehler! Er ist korrekt: „Historientrinker” und nicht „historischer Trinker”. Ein gewichtiger Unterschied. Wein kann nämlich auch Geschichte bedeuten, Zeitgeschichte!

Es gibt gar manchen Weinliebhaber, der sich darüber kaum Gedanken macht. Für ihn sind Jahreszahlen bestenfalls Qualitätshinweise. Zum Beispiel im Bordelais die legendären Jahre 1945, 1947, 1961, 1982. Jahrgangskarten - oft im Kreditkartenformat - geben jederzeit Auskunft in Form eines einfachen Punktesystems oder durch mehr oder weniger gefüllte Gläser. 1992: Schweiz nur drei Punkte, Chile sogar nur zwei, Spanien hingegen 4, was soviel wie „sehr gut” bedeutet, Pomerol 3, Deutschland fehlt auf meiner kleinen Karte.

Doch von dieser generellen Jahrgangsbetrachtung rede ich nicht, auch nicht von der schon weit differenzierteren Jahrgangsanalyse, wie sie zum Beispiel Robert Parker seinem Bordeaux-Buch voranstellt: „Beschreibung der Bordeaux-Jahrgänge von 1945 bis 2001” mit Angaben über Wetter, Erntezeiten, Reifegrad und, und, und…

 

 

Zwei typische Jahrgangskarten im Kreditkartenformat


Jahrgänge sind beim Wein noch etwas ganz anderes, vergleichbar den Jahresringen bei Bäumen, nämlich Träger von Zeitgeschichte, Zeugen geschichtlicher Vergangenheit.

Wir - eine fröhliche Geburtstagsrunde - hatten vor ein paar Tagen einen Bordeaux Pichon Longueville Comtesse de Lalande 1942 im Glas. 1942 - puh! Auch in Bordeaux kein guter Jahrgang. René Gabriel schreibt: „extrem selten angeboten, der schwache Latour wird trotzdem um 600 Euro verkauft (inzwischen sogar teurer!), der Jahrgang gilt als mittelmässig.” Gabriel verleiht Punkte: Haut-Brion 16/20, Latour 13/20, begleitet von der niederschmetternden Aussage: „die Garantie, dass sie noch trinkbar sind, scheint sehr klein zu sein.”

Sie sind noch trinkbar, zumindest unsere „Lalande 1942”. Die erste Flasche ist allerdings das, was der Weinführer brutal mit „vorbei” bewertet: pilzig, süsslich, nach dunklem Bier duftend, morsch….. Doch die zweite Flasche: Kakao, Schwarztee, noch würzig, angenehm im Gaumen, immer noch stützende Gerbstoffe, ledriges aber samtenes Bouquet…. Wir sind sprachlos. 66 Jahre alt, zwar etwas müde, aber noch vif, mit verblassender feiner Struktur.

Letztlich geht es aber bei diesem Weinerlebnis gar nicht um Genussnoten. Es geht um Vergangenes, um Geschichte. Ob es jetzt 12 Gabrielpunkte oder 72 Parkernoten sind, ist egal. Viel wichtiger ist: der Vater des Geburtstagskindes steht zu dieser Zeit, also als der Wein in die Flasche kam, an der russischen Grenze, im heutigen Ost-Polen. Es ist Krieg. In einem kleinen Ort im Odenwald bringt eine Frau ein Mädchen zur Welt, der Vater ist fort, an der Front. Immer häufiger muss sie in den Bunker flüchten. Bombenangriff!

 

 

 

 

Geburtstagswein: Pichon Longueville Comtesse de Lalande 1942

Ich habe diese Zeit nicht erlebt, zumindest nicht so, dass ich sie mit Erinnerungen füllen kann. Ich war damals drei, lebte in der vom Krieg verschonten Schweiz.

Und trotzdem, während ich kleine Schlückchen des Weins trinke, öffnen sich geschichtliche Erinnerungen, ich mutiere zum Historientrinker. 1942: Geburt von ….. Cassius Clay, der später zum Boxhimmel aufsteigt; Hans-Jürg Bäumler, der Eiskunstläufer, mit den Träumen vom „wunderschönen fremden Mädchen”; Michael Bloomberg, der zeigt, wie man Milliarden an der Börse verdient (und verliert); Frank Elstner, der das neue Fernsehzeitalter prägt; Jimi Hendrix, das geniale Drogenopfer, Wolfgang Schäuble, der trotz Lähmung in Deutschland für Ruhe und Ordnung sorgt; Jochen Rindt, der 28 Jahre später mit über 250 Stundenkilometern in den Tod rennt; Barbara Streisand, die Attraktive mit dem Silberblick und der grossen Nase….

1942: Zweiter Weltkrieg …. Wannseekonferenz mit dem Start zum Holocaust; Lübeck wird als erste deutsche Grossstadt bombardiert; Hitler ernennt sich zum obersten Gerichtsherr; die deutsche 6. Armee greift Stalingrad an, und hinterlässt nach ihrer Niederlage mehr als 700‘000 Tote…. 1942: Albert Speer wird Verantwortlicher für die Kriegswirtschaft; Wernher von Braun arbeitet in Peenemünde an der Vergeltungswaffe V2… 1942: Glenn Miller erhält die erste „goldene Schallplatte” der Musikgeschichte; Hans Albers ist der Star in der „Grossen Freiheit Nr. 7”; Horkheimer und Adorno arbeiten im Exil an der „Dialektik der Aufklärung”…

 

 

 

 

Berühmter 42er: Cassius Clay% alias Muhammed Ali

Stop! Längst haben wir den Weinbereich verlassen und sind eingetaucht in die Historie. Ja, ich bekenne mich zum Historientrinker. Nebst dem Weingenuss, der mit bekannten Begriffen wie „mittlerer Körper… angetrocknete Gerbstoffe… abgeklungene Frucht..” zu umschreiben ist, fasziniert mich bei älteren Weinen ihre Zeugenschaft der Geschichte und von Geschichten. Die zwei Flaschen wurden mitten im Krieg im besetzten Frankreich von Menschen verarbeitet, für Menschen, die schon damals den Wein liebten, ihn vielleicht - trotz Kriegsängsten - auch geniessen konnten. Ein Produkt, das für den Verzehr geschaffen wurde, mit den Mitteln und dem Wissen der damaligen Zeit. Ein Jahr des pflanzlichen Lebens - und dessen Frucht - eingefangen, in Flaschen aufbewahrt, in dunkeln Kellern gelagert und heute noch (im guten Fall) zu geniessen. Vielleicht nicht zu geniessen, nur zu verkosten und teilzunehmen an einem nur noch in Fragmenten erhalten gebliebenem Wissen um das Weltgeschehen eines ganzen Jahres.

Historientrinker haben es nicht einfach, sie kämpfen ständig gegen die gängigen Wertvorstellungen des Genusses, kämpfen auch gegen die Vermarktung der Zeitzeugen in Form von Flaschen. Noch halbwegs konsumierbare Jahrgänge von einst werden zu tausend und mehr Franken pro Flasche gehandelt. Nicht weil sie so gut sind, sondern weil sie lebende (auch ein Wein lebt!) Zeitdokumente verkörpern; weil man sie noch heute - nicht anders als vor vielen, vielen Jahren - trinken und erleben kann.

 

 

 

 

Und noch ein einst umschwärmter 42er: Eiskunstlaufstar und Schlagerbarde Jürg Bäumler

Leider hat der schnöde Markt auch die „Historientrinker” entdeckt. Besonders langlebige Weine sind unverhältnismässig teuer, nicht weil sie besser, sondern weil sie langlebiger sind. Man spricht von „Geburtstagsweinen”, denn an einem Geburtstag einen Wein zu trinken, der gleich viele Jahre alt ist, wie man gelebt hat, gehört zu den besonderen Erlebnissen, vor allem wenn man älter geworden ist.

Mit dem Jahrgang 2000 hat vor allem das Bordelais demonstriert, wie man Geschichte zu Geld machen kann. Schon im Vorfeld dieses natürlichen Ereignisses kletterten die Preise beim „schlechten” Jahrgang 1997 unverhältnismässig in die Höhe. Jene Grosshändler, die den Preis nicht akzeptieren wollten, verloren einfach die Gunst des lukrativen Jahrtausendwende-Geschäfts. Dies wollte und konnte sich niemand leisten, also wurde bezahlt… Der 2000 wurde dann - zusätzlich geadelt auch durch ein gutes Weinjahr - zum grossen Geschäft. Noch heute sind die 2000er Bordeaux nur zu exorbitanten Preisen auf dem Markt erhältlich. Mouton Rothschild zu 1‘800 Euro, Sociando-Mallet zu 730 Euro, Troplong Mondot zu 1‘500 Euro, Latour gar zu 7’500 Euro…

 

 

 

 

Der legendäre 1945er: ein hervorragendes Weinjahr und - der Krieg ist zu Ende.


Historientrinker leben teuer! Sie können ihre Leidenschaft nur noch bezahlen, wenn sie sich weinmässig an kleine Jahrgänge halten. Zum Beispiel an 1972. Da wurde unsere Tochter geboren, historisch nicht ganz so aufregend: Rainer Barzel scheiterte um zwei Stimmen beim Versuch, Willy Brandt als Bundeskanzler abzulösen. In diesem Jahr gibt es auch kaum einen Bordeaux, den man heute noch trinken kann. Und trotzdem: der untrinkbare Latour 1972 kostet um 300 Euro, Petrus gar 600 Euro. Historientrinker-Preise für Weine, über die René Gabriel sagt: „streng genommen verdient es kein einziger Wein mehr, auch nur halblobend erwähnt zu werden…”.

Historientrinker sind eben ein besonderes Völkchen, das man auch daran erkennt, dass es - angeblich gegen jede Vernunft - stur am historischen Korken festzuhalten wagt.

Herzlich
Ihr/Euer
Peter (Züllig)

 

 

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