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Wein ist Kommunikation. Doch wie kommunizieren wir, wenn wir Wein beschreiben? Spricht etwas dagegen, sinnlichen Genuss in sinnliche Worte zu kleiden? Muss das kryptisch oder gar lyrisch sein? Oder nur sachlich und nachvollziehbar? Wo liegt die Zukunft des Weins? Wie führt man junge Menschen an das Thema Wein heran? Und wie vermittelt man zeitgemäß Wein in einer Konsumwelt, die immer billiger wird?

Wein braucht eine neue Sprache, muss entjubelt und entmystifiziert werden.” In diesem Punkt sind sich alle drei Gesprächspartner einig, die Wein-Plus zum Auftakt einer neuen Gesprächsreihe an einen Tisch bat: den vereidigten Weingutachter, Autor und Gastronomieberater Otto Geisel aus München, den Autor, Unternehmer und Weinhändler Martin Kössler aus Nürnberg und den Autor und Weinkritiker Marcus Hofschuster aus Erlangen. Die Moderation übernahm Cyriacus W. Schultze.

Wein im Gespräch: Martin Kössler% Otto Geisel% Moderator Cyriacus W. Schultze% Marcus Hofschuster (von links nach rechts)

 

“Ein eleganter, floraler Duft, ein Feuerwerk an vegetabilen, zartwürzigen Aromen, unterlegt mit einem Hauch reifer Ananas, animierender Grapefruit und leicht kräutrigen Komponenten, im Hintergrund mineralische Anklänge. Am Gaumen eine betörende, zartsüße Frucht mit einer verspielten Würze und einer harmonischen Säure, ausbalanciert, traumhaft dicht, doch schwerelos und glockenklar in der Struktur, dazu herrlich saftig und ein beschwingter, verspielter mineralischer Abgang.”
Nehmen wir dieses fiktive Beispiel für eine Verkostungsnotiz. Inwieweit ist eine solche Weinbeschreibung angemessen?

Marcus Hofschuster: Zunächst einmal ist generell zu sagen, dass sich die Qualität eines Weins gegenüber einem Laien nur begrenzt erklären lässt.

Otto Geisel: Ja, die Frage lässt sich so nicht beantworten. Bei der Beschreibung von Wein geht es auch um das Kulturverständnis. Viele Weine lassen sich meines Erachtens ohne Essen gar nicht beschreiben, beziehungsweise hätte eine Beschreibung alleine gar keinen Sinn.

Martin Kössler: Wein ist Kommunikation. Er kommuniziert mit dem Weintrinker, und das muss in Worte gefasst werden können. Eine Weinbeschreibung hat insofern verschiedene Aspekte. Weinbeschreibungen brauchen einen Kontext, sie müssen sowohl den Konsumenten als auch den Produzenten, also gewissermaßen die Technik mit einbeziehen.

Wie kommunizieren wir denn heute, wenn wir Wein beschreiben?

Martin Kössler: Die Weinsprache ist nicht für jeden verständlich. Das stelle ich zum Beispiel bei Freundinnen meiner Töchter fest, die mit Wein kaum Erfahrung haben. Da muss man Assoziationsbrücken schaffen, muss Emotion, die Regionalität und den Kontext in die Beschreibung oder Erklärung reinbringen.

Otto Geisel: Meine Tochter ist Mitte 20 und trinkt Weißwein und Champagner, mag aber keinen Rotwein. Sie sagt, der rieche alt. Und damit meint sie die scheinbar alte, angestaubte Welt ihres Vaters.

Marcus Hofschuster: Diese morbiden Töne im Rotwein können ja auch von alten Holzfässern kommen. Jedenfalls haben Frauen aber eine andere Herangehensweise an Wein, sie denken anders und nehmen anders wahr. Davon können wir Männer noch viel lernen. Ich selbst lerne immer wieder dazu, wenn ich Frauen zuhöre, wie sie über Wein sprechen.

Otto Geisel: Frauen sind präziser in ihrer Ausdrucksweise, sie brauchen weniger Worte.

Martin Kössler: Ja, Frauen sind da weniger emotional.

Landläufig wird ja genau das Gegenteil behauptet. Oft heißt es, Frauen seien viel emotionaler und redseliger als Männer. Doch noch einmal die Frage, vielleicht etwas anders formuliert: Was muss eine Weinbeschreibung leisten?

Martin Kössler: Wir brauchen wieder mehr den Begriff “guter Wein” und müssen erklären, was das ist. In unserem Weinhandel haben wir festgestellt: Je sachlicher und präziser die Beschreibung eines Weins ist, desto weniger lässt sich davon verkaufen. Im Gegensatz dazu braucht man oft nur ein Wort wie “Terrassenwein”, und es läuft. Da gibt’s dann einfach Kino im Kopf. Viele Weinbeschreibungen, die wir heute lesen, sind elitär und geradezu lächerlich. Wir brauchen stattdessen Sinnlichkeit – das kann jeder und es kostet nichts! Wir müssen die Leute dazu anregen, ihre Sinne zu benutzen, die sie haben.

Marcus Hofschuster: Das Problem ist, dass selbst viele Fachleute ihre Sinne nicht richtig benutzen können und sich deswegen hinter diesen schwülstigen und schwammigen Formulierungen verstecken müssen. Da sind viel zu oft nur positive Marketingbegriffe im Spiel, das ist zu oberflächlich.

Martin Kössler: Eine andere Weinsprache kann es aber nur im großen Kontext geben. Alle oder zumindest möglichst viele in der Branche müssen ihre Sprache ändern. Wir müssen das Erlebnis beim Weintrinken rüberbringen. Deshalb sollten wir nur noch die Sinnlichkeit kommunizieren und gar keine Analysewerte. Es geht aber auch nicht um “schmeckt mir” oder “schmeckt mir nicht”. Wein schmeckt überhaupt nicht, Wein fühlt sich an.

"Je sachlicher die Beschreibung eines Weins ist% desto weniger lässt sich davon verkaufen. Wir brauchen mehr Sinnlichkeit!" Martin Kössler

Welche Aufgaben und Möglichkeiten hat Weinkritik?

Marcus Hofschuster: Weinkritik dient der kommunikativen Vermittlung von Wein.

Martin Kössler: Ich finde, die Trennung zwischen Winzer, Kritiker und Händler bei der Weinbeschreibung muss aufgehoben werden. Jeder sollte über Wein sprechen können.

Marcus Hofschuster: Nein, diese Trennung ist wichtig, denn viele Konsumenten und auch viele Händler haben keine Ahnung. Es gibt zu viel Gemauschel, Unfähigkeit und Oberflächlichkeit in der Branche.

Otto Geisel: Das ist leider richtig. In Deutschland haben wir das geringste Wissen und die geringste Aufnahmebereitschaft, wenn es um Lebensmittel, ihre Herkunft und ihre Qualität geht.

Martin Kössler: Wichtig ist ein gesunder Informationsfluss, von dem alle profitieren.

Otto Geisel: Ein ganz wesentlicher Aspekt bei der Weinkritik oder Weinbeschreibung ist, dass sie nicht für Sommeliers, Önologen oder andere Fachleute gemacht wird.

Marcus Hofschuster: Richtig. Im Fokus muss immer der Kunde stehen, und insofern ist Weinkritik gewissermaßen auch eine Art von Erziehung.

Martin Kössler: Genau! Der Weinkritiker vermittelt zwischen dem Erzeuger und dem Konsumenten. Eine gute Weinbeschreibung muss einen sinnlich-erzieherischen Aspekt haben. Aber da haben wir in Deutschland ja schon wieder ein wettbewerbsrechtliches Problem: Eine sachlich-kritische Weinbeurteilung ist schon eine Gratwanderung, deshalb wird ja überall nur gejubelt.

Also dient Weinkritik der Erziehung des Weintrinkers. Erziehung wozu genau?

Otto Geisel: Ich widerspreche da durchaus. Für Geschmack gibt es keine mathematische Formel, er ist immer subjektiv. Für viele Menschen ist beispielsweise Stockfisch eine Delikatesse, andere finden die getrockneten Fische eklig, weil sie nicht gut riechen. Und weil Geschmack so individuell ist, kann Weinkritik meiner Ansicht nach nicht erzieherisch sein, das hieße ja Gleichmacherei. Es kann nur darum gehen, die Dinge differenzierter wahrzunehmen. Jedem von uns ist das Wissen angeboren: Was uns gut schmeckt, tut uns gut. Das ist nicht anerzogen, das tragen wir in uns. Wir brauchen also nur mehr Selbstbewusstsein, um zu erkennen, was uns ganz individuell gut schmeckt und damit gut tut.

Martin Kössler: Das meine ich ja mit dem erzieherischen Aspekt: Erziehung zu einem selbstbewussten Geschmack.

Otto Geisel: Gut, also es geht um mehr Mut zur eigenen Meinung.

Marcus Hofschuster: Natürlich kann Weinkritik nicht vorschreiben, was jemandem individuell schmeckt oder gefällt, aber es gibt objektivierbare Krtierien für Qualität, auf die man sich auf Dauer einigen kann. Etwas weiter gedacht heißt das, es gibt subjektive Schwellen für die Wahrnehmung von eindeutigen Kriterien. Um das Beispiel mit dem Fisch noch mal aufzugreifen: Es gibt ja auch Weine, die erst einmal nicht sonderlich gut duften und etwa deutlich animalische Töne haben. Dann muss ich als Kritiker entscheiden, ob das, was ich rieche, schlecht, also fehlerhaft ist oder lediglich ungewohnt und eigenwillig. Dort beginnt der erzieherische Auftrag.

Martin Kössler: Erziehung bedeutet, zu benennen, was beim Riechen und Schmecken des Weins passiert. Die gesamte Wein- und Lebensmittelwelt ist ja überlagert von der Industrialisierung, die Standards setzt und Uniformität generiert. Weinkritik muss somit weit über den Wein selbst hinausgehen, sie muss kulturelle Aspekte einbeziehen und – ich sage es noch einmal – den Wein in seinen Kontext einordnen. 70 Prozent aller Weine in Deutschland werden über das Selbstbedienungsregal verkauft. Da muss Weinkritik eine Qualitätsdefinition schaffen.

Marcus Hofschuster: Die Weinkritik muss den Wein erklären und dem Kunden eine Entscheidungsmöglichkeit bieten.

"Punkte können niemals alleine eine Weinbeurteilung ausmachen% sondern nur zusätzlich zur Beschreibung eine Orientierung geben." Marcus Hofschuster

Wie hängen Weinbeschreibung und Punktebewertungen zusammen?

Martin Kössler: Durch die Punktebewertungen haben wir verlernt, Weine über die Sprache angemessen zu beschreiben. Dabei sind Zahlen nicht eindeutiger als Worte, und viele Weine lassen sich über Punkte gar nicht bewerten.

Marcus Hofschuster: Punkte können niemals alleine eine Weinbeurteilung ausmachen. Sie können nur zusätzlich zur verbalen Beschreibung eine Orientierung geben. Allerdings werden von vielen Kritikern hohe Punktzahlen auch wegen der Aufmerksamkeit vergeben: Je höher die Punktebewertung, desto eher wird der Kritiker oder Weinführer in den Medien zitiert und vom Erzeuger oder Händler in deren Marketing genannt. Da muss man sich aber nach den Ansprüchen an das Punktesystem fragen.

Martin Kössler: Wenn alle Kritiker nur noch möglichst hoch punkten, werden die Punkte wertlos, und andere Werte gewinnen an Bedeutung. Punkte gehören ins Supermarktregal und haben im höheren Preissegment nichts zu suchen – außer in Bordeaux vielleicht, weil die Weine dort normiert sind. Punkte sagen nichts über die Stilistik, die Sinnlichkeit oder die Regionalität eines Weins aus. Wr brauchen Weinbeschreibungen, die dem echten Geschmackbild und dem Charakter des Weins gerecht werden. Insofern setzen Punkte wiederum den Kontext voraus.

Marcus Hofschuster: Der Kontext ist abhängig von der Erfahrung.

Martin Kössler: Es gibt zwei Entwicklungen am Markt: Die eine Richtung ist Konformität, also standardisierte Weine, die andere Richtung ist Individualität. Für die Weine der ersten Kategorie sind die Punkte, die Weine der zweiten Kategorie lassen sich mit Punkten gar nicht erfassen.

Marcus Hofschuster: Doch, lassen sie schon. Die Weine der ersten Kategorie werden nur stets weniger Punkte haben. Insofern sind Punkte durchaus ein Qualitätskriterium. Wenn man – wie wir bei unseren täglich Nachproben – Weine mit derselben Punktzahl gegeneinander verkostet, merkt man, wie individuell ein Wein ist und findet die feinen Unterschiede auf einer Qualitätsstufe heraus.

Martin Kössler: Jedenfalls gibt es trotz der vermeintlichen technischen Messbarkeit über Punkte keine Objektivität, die allein stehen könnte. Man braucht die Sprache zur Vermittlung, und es geht um die Suche nach dem eigenen Qualitätsempfinden. Die Branche ist in einer Sackgasse, wenn sie sich nur auf Punkte zurückzieht. Dann kaufen die Leute nur Punkte, aber keinen Wein - und so ist es heute ja schon vielfach. Der Charakter des Weins und der persönliche Geschmack des Kunden bleiben auf der Strecke.

Will und braucht der Kunde vermeintlich elitäre und fachsprachliche Formulierungen? Erwartet er vom Händler seines Vertrauens oder vom Sommelier nicht einfach nur eine pragmatische Aussage wie “Der wird Ihnen schmecken”, “Das ist der Typ Wein, den Sie mögen”, “Der passt gut zum Fisch” oder “Der hier wird immer gerne genommen”?

Martin Kössler: Bei “Der wird immer gerne genommen” stehe ich auf und gehe!

Otto Geisel: Wenn der Sommelier dem Gast sagt “Der wird Ihnen schmecken” und dabei selbstbewusst auftritt, erfüllt das seinen Zweck. Da sind italienische Gastronomen ein gutes Vorbild. Wir alle kennen diesen Trattoria-Effekt, wenn wir dank der Empfehlungen des Padrone mehr essen, als wir eigentlich wollten, und Weine probieren, von denen wir noch nie gehört hatten. Da geht es um Überzeugungskraft und ein gewisses Grundvertrauen.

Martin Kössler: Und um Emotion. Aus Händlersicht kann ich dazu sagen: Wir fragen die Leute aus. Jeder sitzt mit seinen geschmacklichen Vorlieben in einer Schublade. Der emotionale Faktor, das eigene Erleben spielt dabei eine ganz große Rolle. Wir finden heraus, in welcher Schublade der Kunde mit seinem Weingeschmack sitzt und empfehlen ihm dann das Passende. Ich kann beim Aussteigen eines Ehepaars aus dem Auto oft schon vorhersagen, wie das Verkaufsgespräch abläuft. Und wenn ich im Gespräch dann auch mal sage “Dieser Wein ist nichts für Sie” und das begründe, kommen die Leute ins Nachdenken. Sie sollen lernen, Geschmack als Gefühl zu begreifen.

Otto Geisel: Wer beim Händler oder im Restaurant als Gastgeber Weine aussucht, hat eine große Verantwortung und wird im Zweifelsfall seinen eigenen Vorlieben folgen. Um einen geschmacklichen Konsens zu finden, ist da fachliche Beratung hilfreich. Weinbeschreibungen brauchen wir, um Leuten, die vor ihren Gästen gefallen wollen, mehr Sicherheit zu geben.

"Ein guter Wein muss sich in seiner Eigenart selbst erklären und braucht keine Betriebsanleitung." Otto Geisel

Wie führt man junge Menschen künftig an das Thema Wein heran?

Otto Geisel: Der Schlüssel ist Offenheit für Geschmack.

Marcus Hofschuster: Ja. Junge Leute sind dabei am aufgeschlossensten und kommen häufig über das Kochen zum Wein.

Martin Kössler: Das stellen wir auch fest. Jüngere Kunden bringen oft ihre Kochrezepte mit und lassen sich dazu den passenden Wein empfehlen. Wir müssen den Leuten Weine zeigen, wie sie sie noch nicht kennen. Und das geht nur über das Wort. Dabei reichen schon wenige, treffende Worte über das Geschmacksgefühl. Es ist das Wort, das den Wein zum Wein macht. Und die jungen Konsumenten muss man mit dem Lust-Ansatz abholen, sie müssen Lust auf und am Genuss vermittelt bekommen.

Otto Geisel: Guter Wein braucht keine Betriebsanleitung.

Marcus Hofschuster: Aber viele Leute brauchen eine Hilfestellung.

Otto Geisel: Der Konsument – und der Erzeuger und der Händler übrigens ebenso – muss die natürlichen Zusammenhänge erkennen und sich auf sie einlassen, nur dann kann er ein großes Produkt verstehen. Ich bringe noch mal ein Beispiel: Guter Käse stinkt. Woher die Milch kommt, lässt sich regional kaum unterscheiden, doch bei der Käseherstellung wird sie unter regionalen Einflüssen transformiert, und einzelne Käse sind sehr wohl in ihrer Herkunft unterscheidbar. Wo der Geist des Ortes wirkt, entstehen Individuen. Auf den Wein bezogen, sind wir damit auch mühelos beim Terroirbegriff. Die Weinbeschreibung muss den Konsumenten in den Kulturraum des Weins hineinführen. Ein guter Wein muss sich in seiner Eigenart dann selbst erklären.

Was muss demnach die Weinkritik der Zukunft leisten?

Martin Kössler: Sie muss auch eine Sensibilität gegenüber dem Herstellungsverfahren schaffen. Es ist unfassbar, wie groß das Unwissen ist, und das ist eben nur zu ändern über das Wort. Wein ist Wort, und das entsteht durch das subjektive Erleben. Es ist so einfach, den Verbrauchern Sicherheit zu geben. Wir müssen den Jahrgang beschreiben, seinen Witterungsverlauf und die Effekte erklären. Dann verstehen die Leute.

Otto Geisel: Ich denke, das geht etwas zu weit.

Martin Kössler: Aber wir können doch nicht lamentieren und nichts tun! Ich habe schon oft gute Erfahrungen gemacht, wenn ich den Charakter eines Weins über den Klimaverlauf des Jahrgangs erklärt habe. Übrigens, noch ein anderer Punkt zum Thema Wein-Aufklärung: In deutschen Kochsendungen spielt Wein überhaupt keine Rolle. Das ist in anderen Ländern sehr wohl der Fall.

Otto Geisel: Und Produktkunde spielt in den Kochsendungen hierzulande auch keinerlei Rolle.

Marcus Hofschuster: Ja, leider. Dabei sind die kleinen Kniffe, die da gezeigt werden, viel weniger wichtig als die Qualität der Produkte. Und eine gehobene Regionalküche, die zu einem guten Wein aus ihrer Gegend passt, ist in Deutschland auch kaum zu finden.

Martin Kössler: Also, wir müssen ein anderes Gefühl für Wein schaffen und den Wein aus der elitären Ecke rausholen. Wir haben das Gefühl für Qualitätskriterien verloren.

Otto Geisel: Schlimmer: Wir haben überhaupt keine Qualitätsdefinition im Lebensmittelbereich.

Martin Kössler: Die Deutschen lernen im Urlaub, was Lebensmittelqualität und -kultur bedeutet. Wir haben geradezu eine verlorene Generation in Deutschland.

Otto Geisel: Das stimmt leider. Medizinisch wird in diesem Zusammenhang unterschieden zwischen Genusszweiflern und Genussverweigerern. Übrigens versucht man inzwischen auch, Depressionen über sinnliche Erfahrungen zu heilen – Genuss als Therapie.

Martin Kössler: Wir haben eine gesellschaftliche Aufgabe, Wein als Volksgetränk zu etablieren. Dafür müssen sich die Werte ändern, und der Genuss muss eine größere Bedeutung erhalten.

Otto Geisel: Wir leben zwar immer besser, aber wir leben nicht gesünder. Nachhaltigkeit endet bei den meisten Unternehmen im Geschäftsbericht, und die Gesellschaft in Deutschland verarmt kulturell. Wein bedeutet Nachhaltigkeit, denn er zeigt eine Entwicklung der Natur auf und konserviert sie, so dass sie immer wieder erlebbar gemacht werden kann. Dann entsteht ein Bild vor dem geistigen Auge, wenn ich einen Wein rieche und schmecke.

Martin Kössler: Genau, es geht um das Geschmackserlebnis, das müssen auch die Medien kommunizieren. Wir müssen das Thema Wein über das eigene Erleben von Qualität demokratisieren, damit die Menschen nicht nur hochgelobte Prestigeweine suchen, sondern auch kleine Weine zu schätzen lernen.

Otto Geisel: Diese Demokratisierung hat ja auch schon mit den vielen Weinblogs eingesetzt. Das ist eine gute Entwicklung, Wein ist ja kein Thema für einen Geheimclub.

Marcus Hofschuster: Die Weine der unteren und oberen Preisklasse trinken meistens Leute, die sich für Wein nicht wirklich interessieren. Sie gehen nach Punktebewertungen oder Flaschenausstattung. Die Weine im mittleren Preissegment trinken überwiegend die interessierten Menschen.

Martin Kössler: Richtig, in der Mitte liegt die Zukunft, die muss neu geschaffen werden, und da sind sachgerechte Weinbeschreibungen wichtig. Die Medien und Weinführer hätten diese Aufgabe und die Verantwortung, aber sie nehmen sie nicht wahr, weil sie sich nur auf die Punkte reduzieren. Die Leute müssen mehr Gefühl für das Produkt vermittelt bekommen, sie müssen verstehen, dass man für unter fünf Euro nur einen maschinell gelesenen Wein erwarten kann.

"Aufgabe der Weinkritik ist die Erziehung zu einem selbstbewussten Geschmack." Martin Kössler (mit Wein-Plus-Redakteur Carsten M. Stammen)

Wohin entwickelt sich der globale Weinmarkt preislich und qualitativ?

Marcus Hofschuster: Also, vieles geht immer weiter in Richtung Banalität – und in Deutschland heißt diese Gleichmacherei: hefig, zuckrig, knallfruchtig, vordergründig.

Martin Kössler: Ich sagte vorhin schon mal: Der Markt spaltet sich – auf der einen Seite uniforme, industriell gefertigte Weine, auf der anderen seite individuelle, handwerklich hergestellte Weine. Regionalisierung wird insofern ein Trend bleiben, aber dem globalisierenden Einfluss kann man sich nicht ganz entziehen. Wir müssen die individuellen Weine stärker hervorheben und hier die Urteilsfähigkeit der Menschen schulen. Ein Trend wie der der Orange Wines entspringt übrigens meiner Ansicht nach auch nur dem Versuch, aus dem Normalen auszubrechen, und der Sehnsucht nach Werten und Individualität. Da ist noch viel Unsicherheit im Spiel.

Otto Geisel: Die Akzeptanz für höherwertige Lebensmittel steigt, das bedeutet bessere Marktchancen für gute Weine.

Martin Kössler: Weine im Lebensmitteldiscount werden sich nur über die Punktebewertungen profilieren können. Das Problem ist aber, dass die Welt der Herstellung sich nicht in Punkte fassen lässt. Viele Supermarktweine sind heutzutage erschreckend gut, die werden auf ein angenehmes Geschmacksgefühl getrimmt. Das trifft dann die Erzeuger im mittleren Segment, die zu diesem Preis keine vergleichbare Qualität liefern können. Es wird also eine Marktverschiebung geben.

Welche Instanz schützt die Konsumenten davor, für qualitativ minderwertige Weine zu viel zu bezahlen?

Marcus Hofschuster: Die Leute brauchen keinen Schutz. Solange ein Wein technisch einwandfrei gemacht ist, sollen sie ihn kaufen.

Martin Kössler: Bei einem industriell produzierten Wein, der für seine Verhältnisse eine gute Qualität hat, handelt es sich um ein hochwertiges getränketechnologisches Erzeugnis, das aber keine Geschichte hat und erzählt. Die Vitikultur ist der Gewinner der Krise. Biodynamik ist keine Ideologie mehr, sondern gelebte Praxis. Die guten, individuellen Weine werden schon im Weinberg anders gemacht, das Ergebnis entsteht nicht in der Kellerei – im Gegensatz zu Marketingweinen. Aber die Verbraucher wollen solche standardisierten Marketingweine, weil sie Stabilität und eine Orientierung versprechen. Auf der Erzeugerseite findet dagegen jetzt eine Rückbesinnung statt. Es ist das erste Mal, dass die Produzenten dem Markt voraus sind: Viele Qualitätswinzer machen heute Weine, die noch nicht marktfähig sind. Da ist die richtige Kommunikation gefragt.

Otto Geisel: Das sehe ich auch so. Wenn die Winzer die natürlichen Zusammenhänge verstehen und umsetzen, dann können Weine entstehen, die außergewöhnlich sind.

Martin Kössler: Und diese Qualität gilt es kommunikativ zu vermitteln. Das ist die neue Funktion der Weinkritik.

Dann fassen wir zusammen: Wein braucht eine neue Sprache. Ist das so? Und wenn ja, wie soll sie aussehen? Welchem Zweck muss sie dienen, für wen und für welche Einsatzfelder muss sie gemacht sein?

Martin Kössler: Mit elitären Weinbeschreibungen und Elegien von Worthülsen kann man die Leute nicht erreichen. Wir müssen eine neue Weinsprache schaffen, indem sie selbst zum Thema gemacht wird, indem wir - wie heute hier - darüber reden. Wir - und das heißt wir alle: Händler, Journalisten, Sommeliers und Erzeuger - müssen der Sprache eine Funktion geben, sie muss einen konkreten Inhalt vermitteln.

Marcus Hofschuster: So ist es. Die Sprache in den Weinbeschreibungen muss etwas aussagen und vergleichbar sein. Dieselben Begriffe müssen dasselbe bedeuten.

Otto Geisel: Die Weinsprache muss einfacher werden, wir müssen die Beschreibungen reduzieren und entmystifizieren. Die Weinkritik muss die Menschen zum eigenen Erlebnis hinleiten, sie müssen mit ihren eigenen Sinnen wahrnehmen. Für Geschmack gibt es keine Verbindlichkeit. Was nicht als Geschmack abgespeichert ist, kann nicht geschmacklich wahrgenommen werden. Die Menschen brauchen mehr Selbstbewusstsein und Mut zum eigenen Geschmack, und dafür brauchen sie Informationen und auch eine gewisse Anleitung.

Martin Kössler: Ich stimme vollkommen zu. Die Weinbeschreibungen müssen zeitgemäßer werden, und das bedeutet: weniger Worte, aber präzise. Und - um das kurz aufzugreifen - wenn etwas als Geschmack abgespeichert wird, geschieht das eben über die Begriffe, über die Sprache.

Marcus Hofschuster: Wir arbeiten seit fast 15 Jahren daran, uns in unseren Verkostungsnotizen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Bei uns bedeuten dieselben Worte immer dasselbe. Aber wir können auch noch, sagen wir, menschlicher werden und noch mehr Interesse am Wein wecken. Die Kritik soll so objektiv wie möglich sein und muss subjektive Kriterien losgelöst von persönlichen Vorlieben neutral abarbeiten. Ich muss also auch würdigen, dass ein Wein technisch gut gemacht ist, auch wenn er mir selbst nicht schmeckt. Das ist auch ein Aspekt der Neutralität: Der Kritiker soll und darf niemandem seinen eigenen Geschmack aufzwingen, sondern er beschreibt seine Wahrnehmungen.

Otto Geisel: Das Weinerlebnis spielt sich ja auf der Gefühlsebene ab. Die Menschen sind viel sicherer bei der Auswahl von Kleidung, Autos oder Musik als bei ihrem eigenen Geschmackssinn. Hier kann Weinkritik eine wichtige Leitplanken-Funktion für den eigenen Geschmack des Konsumenten übernehmen, indem sie ihm den Weg dorthin weist, ihm Anreize gibt, diesen Weg zu gehen, und ihn begleitet.

Vielen Dank für das Gespräch, meine Herren.

 

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