wein.plus
ACHTUNG
Sie nutzen einen veralteten Browser und einige Bereiche arbeiten nicht wie erwartet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser.

Anmelden Mitglied werden

Ein riesiger Stapel von Artikeln, Meldungen, Statistiken, Reportagen und Bewertungen, gesammelt während der letzten zehn Jahre, wartet in einer staubig gewordenen Ecke meines Büros auf den Tag seiner Wiederbeachtung. Niemand darf darin wühlen, ja nicht einmal sich ihm nähern, zu groß ist die Gefahr, dass etwas daraus verschwinden könnte. Jedenfalls behaupte ich das immer dann, wenn sich ihm auch nur ein Staublappen – geschweige denn jemand aus der Familie – nähert. Eine typische Journalistenallüre – geboren in einer Zeit, in der es kein Internet gab und googeln ein sinnloser Begriff war. Ab und zu (immer seltener) stolpere ich doch über den Stapel, zum Beispiel heute, als ich just über den Zeitungen – hoch oben im Gestell – nach einem Buch greifen wollte. Das ging nur, wenn ich den Stapel zuerst wegräumte. Dabei bin ich zufällig auf einen Artikel gestoßen – er lag wohl zuoberst – der verkündet: „VINUM kürt die Aufsteigertrauben – Kulturrevolution“. Revolution, ein Signaleffekt, ich lese weiter: „Cabernet Sauvignon, Pinot Noir, Chardonnay... Ist Ihnen auch so langweilig?“ Tatsächlich, mir ist sehr oft langweilig ob der immer gleichen Diskussionen über die bekannten Edelsorten unter den Reben. Anlass genug, im Stapel weiter zu wühlen.

 

Einige der gesammelten Artikel brachgelegt (Foto: P. Züllig)

Tatsächlich finde ich da genügend Anregungen für mindestens 100 weitere Kolumnen. Zum Beispiel steht im „Midi libre“ vom 28. Juli 2007: „Balades vigneronnes en ‘terre de loup’ pour accros au terroir“ („Winzer-Spaziergang, um das ‚Gebiet des Wolfs‘ zu durchqueren“). Und ich erinnere mich wieder, wie wir an einem Sonntagmorgen ganz früh in das kleine Winzerdorf Berlou südlich der Cevennen gefahren sind, um durch die Rebberge zu wandern. Auf dem Parkplatz stiegen aus jedem Auto Menschen mit glänzenden, farbigen, wie auf den Leib gegossenen Anzügen und machten Bikes startklar. Da erst ist mir aufgefallen, dass hinter dem Wort Balades noch drei Buchstaben standen „VTT“, was so viel heißt wie „vélo tout terrain“ oder eben Mountainbike. So habe ich Berlou auf einem langen Spaziergang kennengelernt, seine Weinberge, seine Reben, seine Weine, während meine gut 400 Mit-Baladisten durch die Rebberge gestrampelt sind und wohl kaum viel von „le terroir de schistes qui participe à la typicité de ses vins“ (vom Schiefer, der typisch ist für die Weine dieses Terroirs) mitbekommen haben. Eigentlich wollte ich hier einmal erzählen, wie im Hinterland des Languedoc hervorragende Weine gemacht werden, die alles andere sind als langweilig. Doch dazu kam es bis heute nicht. Nächste Dokumente deckten das papierne Erinnerungsstück schon rasch wieder zu.

 

Start zur Randonée V.T.T. in Berlou (Foto: P. Züllig)

Sechs herausgerissene Seiten der „Revue du Vin de France“ präsentieren ein „Carnet de voyage dans le Languedoc conquérant“, also ein Reisetagebuch von „eingewanderten“ Winzern im Languedoc. „Conquérant“ heißt so viel wie Eroberer, doch so wörtlich muss man es nicht nehmen. Tatsächlich haben sich in keinem andern französischen Weingebiet so viele „étrangers“ (fremde) Winzer niedergelassen und Weingüter neu errichtet oder alte wieder zum Leben erweckt wie im Languedoc. Der Parcours beginnt kurz nach Nîmes, führt zum Pic-St-Loup, nach St-Saturnin, über Montpeyroux nach Cabrières, Pézenas, Faugères, Berlou (da haben wir das Dorf wieder!), St-Chinian, Béziers, ins Minervois und im Zickzack weiter bis nach Limoux und Malpère. Auf diesem Weg sind an die 40 Weingüter aufgelistet – alles Einwanderer! Ich habe mir vorgenommen, den Weg einmal abzufahren und möglichst viele der Winzer zu besuchen. Doch dann habe ich den Artikel auf den Stapel gelegt, das war 2003, das Datum unten auf den Seiten belegt es. Doch auch dazu ist es nicht gekommen. Es türmte sich der Stapel weiter, fast täglich füge ich neue Artikel dazu. So stellte sich zwischen Vorsatz und Ausführung zum Beispiel eine „Enquête“ (Untersuchung) „dans l’intimité de Bordeaux“ aus dem Jahr 2011, ebenfalls in der „Revue du Vin de France“. Da wird aufgefordert (frei übersetzt), „Architektur, Landschaft, Küche, Lebensart kennenzulernen und einige Geheimnisse des berühmtesten Weingebiets der Welt zu entdecken“. Es wird verraten, welche berühmten Familien noch auf ihren Weingütern (Châteaux) leben oder längst ausgezogen sind, weil sich da – in den alten, ehrwürdigen, oft sehr prunkvollen Häusern – kaum mehr leben lässt. Die alten Châteaux sind weitgehend Repräsentations-Orte geworden. Dem muss ich einmal nachgehen und mich vielen Weingütern einmal von ihrer Hinterseite her nähern.

 

Das historische Wohnhaus von Cheval Blanc% heute im Hinterhof des neuen Château (Foto: P. Züllig)

Doch schon während ich im Artikel lese, taucht unvermittelt ein neues Geheimnis auf, verpackt in die einfache Frage: „Qui est Victor Louis?“ (Wer ist Victor Louis?). Muss man das wissen? Ich schlage nach, oder eben: Ich google. Die Antwort für ganz Neugierige: Er war ein Architekt im 18. Jahrhundert, der das Grand Théatre de Bordeaux gebaut hat, aber auch viele Weingüter der Region. Nicht nur er, auch seine Schüler haben im Bordelais tüchtig gebaut und viele Spuren hinterlassen. Also los: auf Spurensuche! Auch dazu ist es bisher nicht gekommen. Viele, zu viele neue Anregungen haben sich gestapelt. Themen, die mir zumindest geographisch weit näher liegen. Da regt ein Journalist im „Vinum“ an, einmal auf der Überholspur Genf zu entdecken (Artikel von 2004): „Wer an Genf denkt, denkt an UNO, Uhren, Automobilsalon oder den Jet d’Eau, aber kaum an Wein.“ Der Autor ist glaubwürdig, denn es ist Thomas Vaterlaus (heute Chefredakteur „Vinum“ Schweiz), der schon das von den „langweiligen Weinen“ (siehe am Anfang dieser Kolumne) geschrieben hat. Wo er recht hat, da hat er recht, der Weinjournalist aus der Schweiz. Man sollte wirklich einmal in die Winzerdörfer (Chouilly, Russin, Dardagny, Lully oder Cologny) fahren, um jene Schweizer Weine und ihre Herkunft kennenzulernen, die ganz im Westen der Schweiz liegen. Sieben Jahre später, ich bin noch immer nicht in den Genfer Weingebieten gewesen, erscheint ein Sonderheft von „Vinum“, das prompt wieder auf dem Stapel gelandet ist: „Genfer Wein hat viele Gesichter“. Und ich habe sie noch nie gesehen, diese Gesichter...

 

Im Zug vorbeigeflitzt an den Rebbergen von Genf (Foto: P. Züllig)

Natürlich habe ich schon einige Genfer Weine getrunken, kürzlich mit meinen deutschen Weinfreunden einen Gamaret von der Domaine Grand’Cour, der mir offenbarte, dass man auch hervorragende Weine aus neu gezüchteten Reben machen kann.

Der Kreis also schließt sich allmählich. Noch liegen einige hundert gesammelte Artikel dazwischen, sie sind nichts anderes als Anregung, Quellen für Zitate oder statistische Angaben, die irgendwann einmal zu einer Kolumne oder zu einer eigenen Betrachtung führen könnten. Der Konjunktiv ist hier berechtigt, denn es wartet so viel Gesammeltes, dass selbst ein routinierter Sammler (in diesem Fall ich) nicht einmal die Zeit findet, die Sammlung auch nur zu sichten. Es sind Themenblitze (Blitz und der Donner sind längst vorübergezogen), über die irgendwann, irgendwo (zum Beispiel hier) und irgendwie zu berichten wäre. Jedenfalls, wenn man den Anspruch hat, die Weinwelt in Wort und Bild möglichst breit und gut zu erfassen. Ich habe diesen Anspruch resigniert aufgegeben – der Zeitungsstoß ist Zeuge – , ich bin steckengeblieben „zwischen Reben und Rudern“ (ein weiterer Artikel in der „Schweizerischen Weinzeitung“), ich habe staunend zur Kenntnis genommen, dass es ein „Bordeaux, embrouillé et paradoxe“ (durcheinandergebrachtes und paradoxes Bordeaux) geben soll; habe nicht mitgelitten, als die „AOC Schweiz: eine Zangengeburt“ wurde, und ich habe bis heute den „Rotwein, der aus der Tiefe kommt“ noch nicht getrunken.

Stattdessen schreibe ich getreu alle vierzehn Tage diese Kolumne, die (meist) schön pünktlich am Montag erscheint, seit nun mehr acht Jahren, das nächste Mal wird es die 200ste sein. Es sind „Geschichten aus dem Alltag eines Weinsammlers, Weintrinkers, Weinstatistikers, Weinliebhabers“ (wie ich in der ersten Kolumne schrieb). Jetzt weiß ich: Es sind auch Geschichten eines Stapelführers, der unermüdlich dem Stapel entflieht, weil es ihm – bis heute – nie „langweilig ist“.

Herzlich
Ihr/Euer

Mehr verwandte Stories

Alle anzeigen
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr

Veranstaltungen in Ihrer Nähe

PREMIUM PARTNER