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Katastrophenjahr? Jahrhundertjahrgang? Orakel hätte man nicht sein wollen, in den letzten beiden Herbsten. Zu unterschiedlich waren die Eindrücke und Aussagen. Jetzt, ein gutes Jahr später, kann man zumindest über 2015 durchaus sagen: alles gut. Oder fast alles. Ein Jahrhundertjahrgang war 2015 eher nicht. Aber manchmal erlaubt er einem eine Vorstellung davon.

2016 machte es den Kaffeesatzlesern nicht leicht, die die Qualität eines Jahrgangs gerne schon ab August ganz genau vorhersehen wollen. Das extrem feuchte erste Halbjahr ließ schon das Schlimmste befürchten, vor allem weil es den Winzern eine ungewöhnlich frühe Infektion mit dem Falschen Mehltau einbrachte. Die ersten Mengeneinbußen waren also sicher, selbst Totalausfälle mussten vereinzelt befürchtet werden. Nachdem der Winter komplett ohne Frost auskam, gab es ihn zudem vorsichtshalber im Frühjahr, damit er auch angemessen Schaden anrichten konnte. Und immer und immer: Regen. Irgendwann hörte es dann zu regnen auf - und fing so schnell nicht wieder an. Der August war so trocken, dass man vor allem Junganlagen häufig bewässern musste, um sie bei der Stange zu halten.

Orakel hätte man also nicht sein wollen, Ende August letzten Jahres. Die Zweifel waren groß; das Katastrophenjahr wurde schon an den seidenen Faden gehängt. Dann kam ein Herbst, für den man das Bilderbuch auch extra erfunden hätte. Die Tage waren warm, die Nächte kühl und Wasser gab es nur so viel wie unbedingt nötig. Die Lese verlief vielerorts entspannt wie selten, die Traubenbilder im Netz sahen durch die Bank aus wie gephotoshopt, die ersten Proben ließen die Probierenden in Verzückung geraten. Ein Jahrhundertjahrgang? Wir werden sehen.

Einen Jahrhundertjahrgang hat man inzwischen auch im 2015er ausgemacht, den wir für dieses BEST Of probiert haben. Auch hier waren die Befürchtungen zunächst enorm, aber diesmal vor allem wegen der vielerorts monatelang anhaltenden Trockenheit, die viele Winzer zu massiven Bewässerungsmaßnahmen zwang, wollten sie keinen Totalausfall riskieren. Erst im letzten Moment gab es Wasser und dann zum Glück nicht wieder viel zu viel. Mit den ersten Proben kam zunächst Entwarnung, dann regelrecht Euphorie.

Doch so einfach ist es dann doch nicht. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass der Trockenstress nicht überall spurlos vorübergegangen ist. Die Säuren erinnern bisweilen an 2010 und die Phenole sind längst nicht überall reif, so dass manche Weine ziemlich eckig und uncharmant wirken - und nein, das ist in diesen Fällen nichts, was auf besonders gute Reifefähigkeit hindeutet, ganz und gar nicht. Wo diese Mängel im Keller behandelt wurden, sind die Weine hingegen schlapp und wirken bisweilen schon jetzt welk. Wo man den ruhigen Herbst wiederum dazu nutzte, die Reife auf die Spitze zu treiben, steht man heute mit dicken, alkoholisch-rustikalen Ergebnissen da, die wie aus der Zeit gefallen zu sein scheinen.

Soweit die schlechten Nachrichten. Kommen wir zu den Guten. Und die Guten sind wirklich gut. Und es sind viele davon. Denn dort, wo alles stimmt, bei der überwiegenden Mehrheit der engagierten Betriebe und ihrer Weine, sind die Ergebnisse mindestens auf dem Niveau des Überraschungsjahrgangs 2014, in einigen Fällen noch deutlich besser. Die meisten trockenen 2015er verfügen zwar nicht ganz über den Charme, das Spiel und die einnehmende Frucht der besten Vorjahresrieslinge, dafür aber bisweilen über noch mehr Festigkeit, Komplexität und Tiefe. Immer mehr Produzenten gelingt außerdem der Spagat zwischen hoher Konzentration und Finesse, der überhaupt erst die Voraussetzung für große Weine ist. Man kann ohne Zweifel feststellen, dass es in Sachen trockener Riesling in Deutschland wohl noch nie eine ähnliche Vielfalt an Stilrichtungen gab, ohne sich des Orakelns schuldig zu machen.

Grund genug, eine kleine Bestandsaufnahme zu veranstalten zum Stand der Dinge in den einzelnen Anbaugebieten, soweit das in aller Kürze und Pauschalität möglich ist. In den Regionen, die in der folgenden Aufstellung fehlen, spielt Riesling entweder kaum eine Rolle oder es fehlt uns mangels Proben die Grundlagen für halbwegs brauchbare Aussagen.

Baden

Baden ist eigentlich zu groß und zu heterogen, um als einzige Weinregion behandelt zu werden. Die Ortenau war immer schon Rieslingland, erlebt gerade aber eine Auffrischung durch neue Betriebe, die dem hier üblichen, meist recht fruchtbetonten Stil lange auf der Hefe ausgebaute, würzige, erdig-mineralische, kernige und dabei fast völlig fruchtlose Rieslinge entgegensetzen. Gefällt sicher nicht jedem. Uns schon. Noch mehr überrascht allerdings, was im Süden, am Kaiserstuhl passiert. Eigentlich müsste man davon ausgehen, in der heißesten Weinregion Deutschlands vorwiegend breite, dicke, alkoholschwere Rieslinge aufzufinden. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Unter den Spitzenrieslingen des Landes sind die Kaiserstühler mit die elegantesten und alkoholärmsten. Das sollte den Apokalyptikern zu denken geben, die schon die baldige Ausrottung des einheimischen Rieslings per Klimawandel herbeizetern. Auch in anderen vermeintlichen Nichtrieslinggebieten finden sich überzeugende, mitunter erstklassige Weine: an der Badischen Bergstraße, im Markgräflerland, sogar am Bodensee.

26 aktuell probierte Weine

Franken

Die Franken in Sachen Riesling nicht ganz ernst zu nehmen, ist deutscher Volkssport. Ein ziemlich dämlicher Volkssport. Grund dafür dürfte unter anderem sein, dass der Bocksbeutel eine gewisse Behäbigkeit und Rustikalität suggeriert - die die Franken nur in Wahrheit längst hinter sich gelassen haben. Aber Vorurteile sind eben hartnäckig. Nicht umsonst stellten etliche fränkische Spitzenproduzenten in den letzten Jahren wenigstens beim Riesling auf Schlegelflaschen um. Wichtiger ist aber doch, was drin ist, in den Flaschen, und da stehen die Franken ihren Pendants aus berühmteren Rieslinggebieten in nichts nach. Die feinsten Rieslinge kommen traditionell aus Würzburg, aber auch in Gegenden, die für eher kraftvolle bis rustikale Weine bekannt sind, entstehen heute finessenreiche, dabei tiefe und komplexe Weine mit Leben und Spiel: Iphofen, Castell oder Escherndorf sind beste Beispiele. Ganz im Westen ist eigentlich Rotweinland, aber auch hier gibt es ein paar Exemplare, die regelmäßig zur absoluten Spitze in Franken gehören.

91 aktuell probierte Weine

Mosel

Es gibt Leute, die die Erzeugung erstklassiger trockener Rieslinge an der Mosel am liebsten verbieten würden. Das sei untypisch, heißt es. Die Herkunft ließe sich an der Mosel in trockenen Weinen gar nicht ausdrücken. “Das Tal ist eng” sagen die Einheimischen, wenn sich ihre Mitmoselbewohner wieder einmal von ihrer besonders sturen Seite zeigen. Nur scheint sich diese sprichwörtliche Engstirnigkeit vor allem bei vielen Moselweinfreaks eingerichtet zu haben, da kann die Gegend noch so flach sein, in der sie wohnen. Denn natürlich ist das alles völliger Blödsinn. Erstens hat trockener Riesling an der Mosel schon eine ziemlich lange Tradition (und wir reden hier nicht von 30 oder 40 Jahren, eher von 100 und mehr), zweitens entstehen heute an der Mosel einige der feinsten trockenen Rieslinge überhaupt. Deren Filigranität und Leichtigkeit bei maximalem Ausdruck ist genau das, was die Mosel ausmacht, was manche Weinfreunde nur eben ausschließlich in süßen Exemplaren ausgedrückt haben wollen. Trockenen Moselriesling empfinden sie offenbar als Existenzbedrohung. Klar, wo die Produzenten an der Mosel glauben, mit ihren trockenen Weinen einem vermeintlich typischen, voluminösen und kräftigen pfälzer Vorbild nacheifern zu müssen (das so allein in ihrer Phantasie vorkommt), entstehen oft dickliche, plumpe, alkoholwarme und trotzdem auch noch süßlich-verschwommene Langweiler, die jedem Vorurteil in die Arme laufen. Da sind aber die betreffenden Erzeuger schuld, nicht das Gebiet. Ein Missverständnis also, das sich schnell aufklären ließe, würden sich die Kritiker einmal unvoreingenommen durch die trockenen - mitunter knochentrockenen - Spitzenrieslinge der Mosel durchprobieren. Und da sind Dutzende, die es mit jedem anderen trockenen Riesling der Welt aufnehmen können.

219 aktuell probierte Weine

Nahe

Über die Nahe kann man heute eigentlich nur noch Überraschendes berichten, wenn ein Jahrgang einmal ausnahmsweise nicht besonders gut ausgefallen ist. Den Gefallen tut einem die Nahe nur schon lange nicht mehr. Hier sitzen einige der besten Rieslingproduzenten des Landes auf einem Haufen. Naja, nicht ganz auf einem Haufen, das zieht sich ja doch ein bisschen, aber wir im Osten sehen es halt so, wenn wir so weit nach Westen blicken müssen. Denn gleich dahinter kommt ja schon Frankreich. Der Erbfeind. Einmal blöd gestolpert und man landet hinter der Grenze. Da wohnt Sauron und wir sind keine Hobbits, also halten wir uns lieber fern. Und haben deswegen keine Ahnung, wie es in der Gegend wirklich aussieht. Was wiederum blöd ist, weil es da wirklich hübsch sein kann. Und die Weine erst! Aber zu denen wurde ja schon alles gesagt.

75 aktuell probierte Weine

Pfalz

Da sind wir also. In der Pfalz. Wo “der” pfälzer Riesling herkommt. Der Inbegriff des kräftigen trockenen Rieslings (wir erinnern uns). Und wieder alles falsch. Kaum irgendwo ist die Bandbreite an Stilen so groß wie her. Vermutlich nirgends. Und die Unterschiede verlaufen nicht nur die Weinstraße entlang von Nord nach Süd. Wir finden hier problemlos vier oder fünf Weine verschiedener Erzeuger aus einer einzigen Lage, die stilistisch nicht das Geringste miteinander zu tun haben, und das, obwohl - wenn man Glück hat - alle Weine dennoch irgendwie nach ihrer Herkunft schmecken. Von schlank bis kraftvoll, von rassig bis schmelzig, von lebendig bis in sich ruhend, von fruchtig bis mineralisch, von knochentrocken bis süßlich-schmeichelnd ist alles dabei (und das alles gibt es auch noch in mäßig bis großartig). Und dauernd kommen neue Talente mit ganz eigenen, spannenden Weinen dazu. Wer hier nichts findet, das ihn begeistert, der mag Riesling halt nicht. “Der pfälzer Riesling” ist also ein ähnlich dummer Begriff wie “Asia-Küche”. Oder “Lügenpresse”.

207 aktuell probierte Weine

Rheingau

Wenn ein Gebiet in Sachen Stilvielvalt wenigstens annähernd an der Pfalz kratzen kann, ist das heute erstaunlicherweise der Rheingau. Das Gebiet stand - und steht bei vielen Weinliebhabern und sogar Profis heute noch - unter dem Ruf, sich zu lange auf seinen Lorbeeren ausgeruht zu haben und sich dank stetigen Zuflusses nur mäßig kritischer Kundschaft aus dem Ballungsraum Frankfurt zu wenig um Qualität und Weiterentwicklung gekümmert zu haben. Wenn Ihnen dieses Lamento heute begegnet, hören Sie am besten weg. Denn kaum irgendwo sonst in Deutschland wird derzeit so viel umgestoßen, experimentiert, diskutiert und verändert. Vielleicht ist das geringfügig übertrieben, vielleicht geht es auch woanders ähnlich dynamisch zu, aber nirgends ist der Wandel so auffällig, so brutal wie im jahrelang so einzementierten Rheingau. Die alten Hierarchien gelten nurmehr bedingt, die alten Überzeugungen gar nicht mehr. Im Rheingau! Man stelle sich sowas mal im Bordelais vor! Dann hätte man eine ungefähre Vorstellung davon, was diese Umwälzungen bedeuten. Es war immer schon so: wo der Rheingau groß ist, gibt es fast nichts Besseres. Es gab nur seit Ewigkeiten nicht mehr so viel davon. Und es war vielleicht noch nie so spannend.

220 aktuell probierte Weine

Rheinhessen

Als es oben um die Bandbreite an Stilrichtungen ging, hat sich mancher mit Sicherheit gedacht: Jaundwasistmitrheinhessen? Zugegeben, das ganze Gebiet wirkt erheblich inhomogener als etwas Pfalz und Rheingau, wo die Weinberge meist wie an der Schnur Fluss und Hängen entlang aufgezogen sind, während die Anbauflächen hier quer über das ganze hügelige Gebiet verstreut sind und lediglich direkt am Rhein zwischen Oppenheim und Nackenheim einmal eine einigermaßen homogene Front bilden. Dass die Weine sich hier stilistisch einigen wenigen Grundrichtungen zuordnen lassen, liegt wohl hauptsächlich an den klaren Vorbildern, die eine Junge Winzergeneration - und Rheinhessen scheint fast ausschließlich aus junger Winzergeneration zu bestehen - hier zur Verfügung hat. Die Qualitätsrevolution hat in Rheinhessen schon zu einer Zeit begonnen, als das große Experimentieren noch nicht in Mode war. Die heutigen Ikonen Rheinhessens haben sich behutsam weiterentwickelt, hatten immer trittfesten Boden unter den Füßen. Dafür sind es heute eherne Bollwerke, keineswegs unbeweglich, aber mit einer so sicheren, tief wurzelnden Qualitätsphilosophie, wie sie alle ganz großen Weinproduzenten der Welt besitzen. Glücklich ein Gebiet, das solche Leuchttürme hat, noch glücklicher eines, dessen Produzenten deren Licht auch zu schätzen wissen. Und das ist hier wie nirgends sonst in Deutschland der Fall: die Großen ziehen die kleinen und jungen mit - und die lassen sich ziehen. Und werden dabei immer besser. Man könnte Lehrbücher drüber schreiben. Falls man dazu käme, vor lauter probieren. Denn bis man sich hier auch nur durch alle erstklassigen trockenen Rieslinge durchgetrunken hat, das kann dauern.

149 aktuell probierte Weine

Württemberg

Württemberg. ‘Sch Ländle. Das Land des Diminutivs. Ob die Geringschätzigkeit, die viele Rieslingtrinker Württemberg entgegenbringen, damit zu tun hat? An den Weinen jedenfalls kann es nicht mehr liegen. Tatsächlich war Württemberg ziemlich lange Zeit ein echtes Weinchenland. Gefällige Langeweile allerorten. Nur: das ist 20 Jahre her, zumindest wenn man nicht allzu streng sein will. Und was in den letzten 10 Jahren hier passiert ist, sollte jeden Weinliebhaber, der sich für aufgeschlossen hält, und der davon nichts mitbekommen hat, beschämen. Doch selbst wenn der radikale Wandel den Leuten aufgefallen ist, nehmen sie ihn vor allem bei den Rotweinen wahr; der Riesling bleibt oft außen vor. Ein Fehler. Nein, nicht: “setzen, sechs!”. Hinfahren, probieren!

39 aktuell probierte Weine

 

Links zu den Weinen der nicht besprochenen Gebiete:

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