wein.plus
ACHTUNG
Sie nutzen einen veralteten Browser und einige Bereiche arbeiten nicht wie erwartet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser.

Anmelden Mitglied werden

Bei der Erbteilung erhielt Walter Massa nicht den wertvollen Teil des Hofes, die Obstbäume und das Vieh, sondern die Weinberge. Wäre es umgekehrt gelaufen, wäre der Timorasso wohl in der Versenkung verschwunden. Walter Massa versteht es nicht nur, aus Trauben Wein, sondern auch aus simplen Sachverhalten spannende Geschichten zu machen. Der Winzer mit Talent zum Alleinunterhalter ist der Vater des Timorasso, sein Biondi Santi sozusagen. In einer rastlosen Vierstundenshow diktiert er uns mit einem unerschöpflichen Gestikulier-Repertoire in Weinberg, hartgefedertem Landrover, Weinkeller und während des Mittagessens, unentwegt mit beiden Händen fuchtelnd, die Geschichte des Timorasso ins Aufnahmegerät. Fragen unsererseits sind eigentlich überflüssig, sie dienen mehr der höflichen Bezeugung unserer Aufmerksamkeit oder um ihm die Möglichkeit zu geben, auch mal eine Gabel Pasta in den Mund zu schieben.

Marca Obertenga, die Heimat des Timorasso

Marca Obertenga… nie gehört? Tatsächlich gibts eine kleine geschichtliche Lücke von rund 1000 Jahren, während der diese Bezeichnung nicht mehr gebräuchlich war. Vor dem Jahr 1000 hieß das Land um Tortona noch so, es waren alte Adelsgeschlechter, die das Land beherrschten, es gegen die Angiffe der Sarazenen verteidigten und es von Halbpächtern bearbeiten ließen. Danach verlor dieser Landstrich seinen Namen. Das namenlose Land liegt zwischen dem lombardischen Oltrepò Pavese im Osten und dem piemontesischen Monferrato im Westen, ein Niemandsland mit Wein, Pfirsichbäumen und Wiesen, hübschen Weilern und recht merkwürdigen, wenn auch liebenswürdigen Menschen. Der Landstrich ist ziemlich verschlafen, obschon er verkehrsgünstiger kaum liegen könnte: Die Autobahn von Turin nach Piacenza und die von Mailand nach Genua kreuzen sich hier. Paolo Ghislandi (Cascina I Carpini): „Die Colli Tortonesi sind sehr zentral gelegen, denn in einer Stunde ist man in Genua, Mailand oder Turin. Bis vor Kurzem gabs hier keinen nennenswerten
Tourismus. Es herrscht die absolute Ruhe, ein sehr sanfter Tourismus beginnt sich langsam zu entwickeln. Die Natur ist unberührt, und es gibt fast keine Industrie. Viele Touristen fahren an der Ausfahrt Tortona vorbei, um ans Meer zu gelangen.“

(Foto: Merum)

Wir haben gelernt, das Piemont in Nordpiemont (Gattinara, Ghemme & Co.), Roero, Langa (Barolo, Barbaresco etc.) und Monferrato (Barbera, Grignolino etc.) zu unterteilen. Von Tortonaoder einer Marca Obertenga hat uns nie jemand etwas gesagt. In der Tat haben wir bis heute wenig verpasst. Der Cortese, dessen Wein wenige Kilometer westlich Gavi heißen darf, der Barbera und andere hier angebaute Sorten, bringen nichts hervor, was einen Ausflug lohnen würde. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Weinproduktion wieder aufgenommen wurde, bestockte man die Weinberge vor allem mit Barbera. Denn für Rotwein herrschte große Nachfrage. Bis in die 80er-Jahre waren hier 8000 Hektar mit Reben bepflanzt. Die   Aufgabe des Hügellandes von Tortona war es stets, die Kellereien des Oltrepò und von Asti mit Trauben und Jungwein hauptsächlich der Sorte Barbera zu versorgen, eine Flaschen-produktion gab es nicht. Anders der Hügel auf der westlichen Seite des Flusses Scrivia, wo der Gavi seit jeher eine eigenständige Karriere eingeschlagen hatte. 1973 wurde auf dem Gebiet von 30 Gemeinden die DOC Colli Tortonesi begründet, ursprünglich nur für Barbera und Cortese, erst 1996 wurde sie auch auf einige weitere Sorten ausgedehnt, darunter auch der Timorasso. Allerdings änderte auch die DOC nichts am Offenweinschicksal dieser Gegend. Jetzt jedoch, wo mit dem antiken Gebietsnamen auch der Timorasso wiederentdeckt wurde, wird alles anders! Die internationalen Beleuchter der Weinwelt sind gezwungen, ihre Schein-werfer auch auf die Marca Obertenga bei Tortona zu richten. Dieser eigenartige Timorasso zwingt sie dazu.

Die Entstehung des „weißen Wunders“

Im Jahr 1304 schrieb der Gelehrte Pietro de‘ Crescenzi aus Bologna in seinem Werk Liber commodorum ruralium, dass den Weißweinen von Tortona eine glänzende Zukunft bevorstehe. Wie recht er doch hatte, auch wenn er mit seiner Prophezeiung 700 Jahre zu früh war. Walter Massa: „Ich wurde vor 55 Jahren auf einem Bauernhof geboren und erlebte mit, wie mein Onkel und mein Vater sich für unsere Landwirtschaft aufopferten. Volljährig geworden, brachte ich es nicht über mich, den Hof zu verlassen. Ich wollte eigentlich weggehen, mein Vater hatte mich sogar dazu aufgefordert, aber ich konnte nicht. Früher blieb ich meines Vaters und meines Onkels zuliebe, heute wegen meiner Neffen. Es gilt, hier eine Sache weiterzubringen. Wir hatten damals einen florierenden Obstbetrieb, der Pfirsich von Volpedo rentierte, und die Reben, die brachten nichts. Der depperte Sohn erhielt den unrentablen Teil des Betriebs, die Rebberge. Ich war damals 30 Jahre alt und ein Verlierer. Aber ich war nicht nur deppert, sondern – schlimmer – auch größenwahnsinnig! Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, etwas Besonderes zu machen. Es war im Jahr 1987, als ich die Trauben meiner 400 Timorasso-Rebstöcke separat vinifizierte. Weil ich wissen wollte, was dieser Wein taugt, hatte ich die Önologie, die ich an der Weinbauschule in Alba erlernt hatte, auf ein absolutes Minimum beschränkt. Ich konnte genau 580 Flaschen abfüllen, und per Zufall war der Wein gut. Da damals kaum einer Wein abfüllte in dieser Gegend, hatte ich Erfolg damit. Sofort fand ich einen größeren Abnehmer in Mailand. Der aber beklagte sich über den Preis, 7.200 Lire seien zu viel, er wollte nur 5.500 bezahlen. Also hob ich den Preis auf 12.000 Lire an, und keiner wagte mehr zu meckern.“ In Wirklichkeit wird Walter Massa hier nicht vollständig zitiert, denn er spricht ohne Satzzeichen und Atempausen, zudem haben wir aus Platzgründen viele amüsante und interessante Exkurse unterschlagen, die nicht direkt zum Verständnis des Timorasso- Phänomens beitragen. Ohne sich um Schlaglöcher zu scheren oder um den Wirt, der die Nachspeise vor ihn hinstellt, fährt der ausgebildete Önologe Massa fort: „…nach dem ersten Erfolg hatte ich große Mühe, die Qualität konstant zu halten. In manchen Jahren war der Wein gut, in anderen unpräsentabel. Ich habe begriffen, dass ich im Keller möglichst wenig eingreifen soll. Ich vertraue den Trauben und dem Wein. Der Timorasso bleibt im Stahltank auf seiner Hefe, die ab und zu aufgerührt wird. Manchmal dauert die alkoholische Gärung bis zu sechs Monaten.“

(Foto: Merum)

1990 legte Massa seinen ersten Timorasso-Weinberg an, den Costa del Vento. Massa: „Damit kam ich auf eine Produktion von 2.100 Liter. Andrea Mutti war der erste, der 1995 ebenfalls Timorasso pflanzte, in den folgenden Jahren kamen dann auch Luigi Boveri, Terralba, La Colombera und Mariotto dazu. Das sind alles Betriebe, die vor allem Fasswein verkauften. Ich redete auf sie ein, dass sie für sich selbst arbeiten, dass sie ihren Weine selbst vermarkten sollten. Und tatsächlich gelingt es ihnen heute dank des Zugpferdes Timorasso, auch ihren Barbera abzusetzen. Auch ich selbst pflanzte im Jahr 2000 massiv Timorasso und erhöhte von 1,5 Hektar auf neun Hektar. Zufrieden bin ich erst, wenn die gesamte Anbaufläche 100 Hektar erreicht. Heute bauen bereits 20 Betriebe den Timorasso an, zehn davon bringen Trinkbares hervor, die andern sind noch in der Entwicklungsphase.“ Der bislang unbekannte Timorasso schickt sich jetzt zwar an, zu einer Art Modewein zu werden, aber eine Marketing-Erfindung ist er nicht, seine Wurzeln stecken tief in der Geschichte dieser Hügel. Paolo Poggio erzählt uns von seinem Großvater, der in den 20er- Jahren praktisch nur diesen Wein produzierte. Poggio: „Als mein Vater noch ein Kind war, brachten die Bauern den noch trüben Jungwein nach Tortona, von wo er nach Deutschland und in die Schweiz transportiert und dort ausgebaut wurde.“ Aber auch bei der Familie Poggio musste der Weiße im Laufe der Jahre dem Barbera weichen. Erst nachdem Paolo den Hof übernommen hatte, pflanzte er wieder ein paar Rebzeilen mit Timorasso an. Elisa Semino (La Colombera): „Seit zehn Jahren füllen wir Timorasso ab. Vorher taten das nur Massa und Mutti. Um 2000 begann sich eine ganze Gruppe von Winzern für diesen Weißen zu interessieren und ihn anzupflanzen. Unser Territorium ist sehr spät erwacht, und das ist vielleicht ein Glück, denn wir sind eine dynamische und kompakte Gruppe und erkennen Walter als den Vater des Timorasso an. Die meisten von uns sind befreundet miteinander und begegnen sich auch außerhalb der regelmäßigen Fachtreffen. Für meinen Abschluss in Önologie vor fünf Jahren gab mir Andrea Mutti Nachhilfestunden in Physik und Chemie.”

Dies ist uns im Timorasso-Land sehr positiv aufgefallen, dass nämlich keiner über den anderen abfällig spricht, sondern vielmehr dessen Verdienste hervorhebt. Die Winzer pflegen die Freundschaft und sprechen voneinander mit Respekt. Sowas kennt man eher aus dem Burgund als von italienischen Weingebieten…

Der Timorasso und die andern Winzer

Den Zusammenhalt der Produzenten erkennt man auch an der Selbstdisziplin, mit der sie sich an ihre Entscheidungen halten. Sie haben nämlich ausgemacht, den Timorasso mindestens ein Jahr lang im Keller reifen zu lassen, aber nur in Edelstahl, ohne Holz. Die freiwillige Unterwerfung des eigenen Individualismus unter eine kollektive Entscheidung ist etwas sehr Unitalienisches. Wir dürfen gespannt sein, wann der kommerzielle Erfolg den Narzissmus hier und dort ausreichend gestärkt haben wird und wir die ersten Barrique-Timorasso bestaunen dürfen. Im Moment funktioniert der Zusammenhalt noch, selbst ein junger Wilder wie Stefano Daffonchio (Terralba) respektiert die Stallorder: „Ich mache Barbera mit 17, 18 Volumenprozent, einer bleibt 40 Monate im Holz, aber den Timorasso baue ich im Edelstahl aus. Klar hätte ich Lust, mit Holz zu experimentieren, aber ich getraue mich nicht. Wir Produzenten haben uns auf eine Linie geeinigt, wenn jeder von uns jetzt seine eigenen Ideen miteinbringt, verliert der Timorasso seine Identität.“

Francesco Bellocchio (Vigne Marina Coppi): „Als ich im Jahr 2003 die Verantwortung für unser Land übernahm und das Weingut aufzubauen begann, war ich nicht übermäßig vom Timorasso überzeugt. Ich pflanzte vorwiegend Barbera-Reben und nur wenig Timorasso. Wenn ich jetzt auf meine bisherigen sieben Jahrgänge zurückblicke, wird mir das Potenzial dieses Weins jedoch bewusst. Auch der Markt gibt deutliche Signale, der Timorasso öffnet mir viele Türen.“ Stefano Daffonchio (Terralba): „Ich bleibe dem Barbera treu, auch wenn ich mich bei den besten Restaurants in Italien und im Ausland mit dem Timorasso anmelde. 80 Prozent meines Weins sind Barbera, nur zehn Prozent sind Timorasso. Beim Timorasso ist die Nachfrage größer als die Produktion, der Barbera hingegen steckt in der Krise. Wahrscheinlich pflanze ich noch mehr Timorasso, aber er soll die Spitze unserer Produktion bleiben. Dieser Wein funktioniert tatsächlich, aber es besteht die Gefahr, dass die Produktion hochschnellt und Qualität und Preise fallen. Hier bei uns gibts viele Betriebe, die ihren Rotwein im Fass für einen Literpreis von 30 Cent verkaufen. Wenn ich nachrechne, kostet mich die Produktion eines Liters 2,50 Euro! Der Fassweinmarkt ist

(Foto: Merum)
verheerend!” Was tun mit Weinen, für die es zu wenig Flaschennachfrage gibt? Viel besser als sie im Fass an Großabfüller zu verhökern, ist immer noch der Offenweinverkauf ab Hof. Elisa Semino (La Colombera): „Was wir nicht abfüllen, verkaufen wir offen an Privatkunden. Jedes Wochenende kommen unzählige Weinkunden aus Mailand, Turin und Genua und kaufen Wein in größeren Behältnissen. Der Wein der ältesten Reben kommt in die Flasche, der Rest in den Offenweinverkauf.”

Die Cantina Sociale ist nach Walter Massa der größte Timorasso-Produzent. 19.000 Liter Timorasso 2010 ruhen hier in einem großen Stahltank. Das meiste davon wird offen verkauft werden, denn über einen  ennenswerten Flaschenmarkt verfügt die Genossenschaft nicht. Die Cantina Sociale von Tortona steckt immer noch in einer Vergangenheit fest, in der eine Kellerei davon leben konnte, Fasswein an Abfüller zu liefern. 3,5 Millionen Liter Wein erzeugt die Kellerei jedes Jahr. Bei den derzeitigen Tiefstpreisen für Fasswein kann man sich leicht vorstellen, wie gering die Mittel sind, die diesem Unternehmen für zusätzliches Personal und für Investitionen in die Flaschen-qualität zur Verfügung stehen. Walter Massa hatte uns ans Herz gelegt, den Timorasso der Cantina Sociale zu verkosten. Wir tun es pflichtbewusst, aber vermutlich hatte er diesen Wein in einem vorteilhafteren Moment probiert als wir: Uns macht die Fassprobe einen eher matten Eindruck. Der Besuch der Cantina Sociale macht uns ziemlich traurig. Alles wirkt so hoffnungslos, ohne Zukunft. Das ist umso beunruhigender, als am Schicksal der Genossen-schaft jenes von 450 Winzern hängt! Es mangelt hier dramatisch an Geld und Unternehmer-tum. Selbst auf das meiste der 19 000 Liter Timorasso wartet das Fasswein-Schicksal, er wird, wer weiß unter welcher Marke, als Billig-Timorasso wieder in den Supermärken auftauchen. Sorgen machen den Genossen aber weniger die Weißen als die Roten, sprich Barbera. Cristiano Vergagni, er hält den Betrieb von der administrativen Seite her zusammen: „Bis vor wenigen Jahren ersetzten die Bauern die weißen Sorten durch rote, nun hat sich der Trend wieder gewendet. Wir blicken auf eine ziemlich dunkle Vergangenheit zurück, seit es diese Cantina gibt, wurde nie in die Flaschenqualität investiert, fast aller Wein wurde im Fass verkauft. Flaschenweine hatten wir lediglich zwei Sorten. Im Dezember erhielten wir einen neuen Direktor, der die Selbstvermarktung fördern will. Aber uns fehlen die Strukturen dazu, im Vergleich zu anderen Genossenschaftskellereien haben wir 20 Jahre Rückstand.“

Was den Timorasso besonders macht. Unser Thema sind die Appellationen. Merum interessiert sich für klar disziplinierte Weinkategorien mit Tradition und Ursprung sowie Winzer, die sich im Rahmen der jeweiligen Disziplinare miteinander messen. Es sind die gemeinsamen Regeln, die Leistungen von Winzern vergleichbar und somit spannend machen. Beim Sport ist es genau dasselbe. Einzelleistungen außerhalb jeder anerkannten Disziplin fallen nicht unter Sport, sondern sind bestenfalls für das Guinness Buch der Rekorde, Weine, losgelöst von jeder Tradition, nur für die allzu bekannten Weinpäpste ein Thema. Es ist deshalb nicht in erster Linie die Qualität der Weine eines Walter Massa oder eines Claudio Mariotto, die uns mit Begeisterung erfüllt, sondern dieser außerordentliche, allen Timorasso gemeine Weincharakter. Diese Frucht, diese Kraft, diese Petrolnoten repräsentieren Appellationscharakter, und das macht diesen Wein zu einem typischen Merum-Thema. Unsere Reportage über den Timorasso hat den Zweck, nicht nur die Protagonisten dieses Weins den Lesern bekannt zu machen, sondern auch festzuhalten, wie sie sich der Herausforderung Timorasso stellen. Stefano Daffonchio (Terralba): „Den Timorasso Derthona lasse ich vor dem Abpressen zwei, drei Tage auf den Schalen, die Riserva sogar eine Woche. Dann leite ich die Gärung ein, die in der Regel um die 30 Tage dauert. Danach folgt Abzug des Jungweins und Ausbau während 180 Tagen auf der Feinhefe, die ab und zu aufgewirbelt werden muss.“

Walter Massa: „Dieser Weiße ist alles andere als pflegeleicht. Will man vermeiden, dass die Trauben im Herbst von Fäulnis befallen werden, sind im Sommer viele Arbeitsstunden für die Laubarbeit nötig. Das ist auch der Grund, weshalb die arbeitsauf-wendige Sorte

(Foto: Merum)
nach der Reblaus-Katastrophe nur noch selten angepflanzt wurde.“ Die Timorasso-Traube ist reich an Norisoprenoiden, das sind besondere, natürliche Aromastoffe, die nach vier, fünf Jahren zu – in Italien nur beim Timorasso bekannten – Petrolnoten führen. Walter Massa: „Der junge Timorasso besitzt fruchtige Aromen, mit der Reife entwickeln sich dann petrolartige Noten. Diese besondere Mineralität entsteht auf Grund der Genetik des Timorasso und den besonderen Böden. Meinen Timorasso pflanze ich nur in Lagen, die mir diese Noten zu ergeben versprechen.“ Stefano Daffonchio (Terralba): „Der Timorasso steht als Weißwein auf der Stufe des Barolo oder des Barbaresco. Man kann ihn auch jung trinken, doch verzichten wir dann auf seine Typizität, die sich erst im Laufe der Jahre entwickelt. Leider verfüge ich nicht über das nötige betriebliche Durchhaltevermögen, sonst würde ich unsere Weine nicht schon so jung auf den Markt bringen.“

Bei Claudio Mariotto haben wir das Glück, in eine Vertikalverkostung mit improvisiertem Abendessen reinzuplatzen. Pigi, eine seltsame Figur, sozusagen das gute Gespenst des Timorasso, ein stets fröhlicher, auffällig gebildeter Mann mit langem Haar, großem Gesicht, breitem Hut, barfuß und stets zwei großen Weingläsern bewaffnet (auch, als wir ihm auf der Vinitaly begegneten), scheint in sämtlichen Kellern und Küchen der hiesigen Winzer zu Hause zu sein. Wovon er lebt, ist nicht mit Bestimmtheit in Erfahrung zu bringen, dass er guten Wein liebt, ist sofort klar, auch dass er in seinem Mercedes stets selbstgemachte Salami mit Messer und Holzbrett für Not- und andere Fälle mitführt, dürfen wir erfreut erfahren. Mähdrescher fahre er manchmal, wird uns erklärt, und ab und zu hole er auch ein paar Küken aus Frankreich für einen besonderen Hähnchenzüchter in Italien. Fragt man Pigi direkt, lautet die dahergenuschelte Antwort nur: „Ich bin zu arm, um zu arbeiten“. Jedenfalls stellt sich Pigi auch bei Mariotto an die Glut und bedient die Runde mit Gegrilltem. Ein Chefkoch, der ebenfalls vorbeikommt, macht sich am Herd zu schaffen und zaubert einen schmackhaften Risotto auf die Teller. Aber das Kernstück des langen Abends sind die zehn Timorasso-Jahrgänge von Claudio Mariotto. Diese Verkostung ist für uns eine einzigartig lehrreiche Rückblende auf die junge Geschichte dieses Weins. Da ist keine Flasche dabei, die nicht überzeugend wäre! Nur der 99er, das Erstlingswerk von Claudio, scheint etwas gereift. Alle anderen Jahrgänge zeigen sich frisch und vielschichtig. Wiegen bei den jüngeren Jahrgängen des ausschließlich im Stahltank ausgebauten Weins Noten von weißen Früchten und Agrumen vor, wird der Petrolton mit zunehmendem Alter immer ausgeprägter. Die gerade Linie vom 2009er zurück zum 2000er, nur von den Oszillationen der Jahrgangsmerkmale bewegt, ist beeindruckend. Spätestens nach dieser Vertikale schlägt unsere, durch die Verkostungen für die Merum Selezione geschürte Neugier und Erwartung in Begeisterung um! Sicher, noch verfügen nicht alle Winzer im Keller über die Professionalität eines Walter Massa oder eines Claudio Mariotto, aber nachdem wir diese Leute nun alle persönlich kennenlernen durften, sind wir überzeugt, dass sie die Winzer sind, die es hier jetzt braucht. Diese jungen Leute haben das Zeug dazu, das hässliche Entlein der Colli Tortonesi in die Welt der italienischen Topweine zu führen.

Erfolg birgt Gefahren

Timorasso ist der Name einer Traubensorte und, da er keinen solchen hatte, des aus diesen Trauben gekelterten Weins. Aber: Niemand kann einem Winzer außerhalb der ursprünglichen Heimat der Sorte verbieten, Timorasso-Reben anzubauen und den Wein so zu nennen. Was er hingegen nicht darf, ist seinen Wein Colli Tortonesi zu nennen, denn dies ist eine geschützte Appellation. Auch der Name Derthona steht nicht zur Verfügung, da dieser Name eine geschützte Privatmarke ist. Es ist nur normal, dass die Winzer von Tortona immer stärker auf den Timorasso setzen, heute sind es 50 Hektar, bald werden es 100 sein. Dieser Weiße ist in wenigen Jahren zu ihrem Aushängeschild geworden und wird wohl bald auch ihre Haupteinnahmequelle sein. Der Timorasso hilft zudem mit, die anderen Weine besser zu vermarkten. Wer von den Colli Tortonesi spricht, meint den Geheimtipp Timorasso. Dieser Name prägt sich immer tiefer ein als Marke. Es ist ein großes Glück für dieses vergessene Landwirtschaftsgebiet, dass Walter Massa mit der Sorte rumexperimentierte und seine Entdeckung und seinen Erfolg bereitwillig mit den anderen zu teilen bereit war. Allerdings drohen nun zwei Gefahren: Erstens, dass der Timorasso in seinem Ursprungsgebiet auch in Lagen gepflanzt wird, wo er nur Mittelmaß ergibt, und zweitens, dass Weine namens Timorasso auch anderswo entstehen. Wollen die Winzer nicht den Fehler ihrer Kollegen in Valdobbiadene und Conegliano wiederholen, sollten sie entweder bald den Namen des Weins ändern oder den der Traubensorte. Offenbar hat es im Konsortium darüber bereits Gespräche gegeben. Auch der Vorschlag, den Wein Derthona zu nennen, soll aufgetaucht sein, allerdings blieb dieser dann in einer unbekannten Büroschublade hängen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Winzer bald auf eine zukunftstaugliche Lösung einigen. Die Versuchung für auswärtige Investoren, sich mit ein paar Hektar am Erfolg zu beteiligen, wird durch die Besitzverhältnisse gebremst. Das Land der Colli Tortonesi befindet sich zumeist noch in der Hand von Bauernfamilien und ist ziemlich zerstückelt. Für nicht ansässige Kellereien wird es schwierig sein, groß ins Timorasso-Geschäft einzusteigen. Es sei denn, sie begnügen sich mit Fasswein-Timorasso der Cantina Sociale oder anderen vermarktungsschwachen Erzeugern.

Ein Weißer stoppt die Landflucht

Der ruhige, geduldige Andrea Mutti ist das schiere Gegenstück seines extrovertierten Freundes Walter Massa. Mutti klärt uns über die landwirtschaftlichen Besitzstrukturen dieses Landstrichs auf: „Unser Gebiet ist agrarhistorisch eine Besonderheit. Gab es in Apulien die Masseria, in der Toskana die Fattoria und in der Lombardei die Cascina lombarda mit großem Landeigentum, waren hier die Besitzungen eher klein. Hier gehörte das Land immer den Bauern. Die sozio-ökonomische Struktur der Marca Obertenga, wie sie heute noch existiert, gründet tief in der Geschichte. Obschon wir zum Piemont gehören, verbindet uns historisch nicht viel mit dieser Region. Wir sind ein eigner Menschenschlag, haben Traditionen und eine Kultur, die sehr verzweigte Wurzeln haben. Da gibts neben den piemontesischen auch lombardische und ligurische Einflüsse.“ Silvio Davico (Pomodolce): „In den Colli Tortonesi existieren jede Menge unbebaute Lagen, die für Weinbau geeignet sind. Noch besteht keine Gefahr, dass jemand Timorasso in eine schlechte Lage pflanzen muss. Vielmehr hoffe ich, dass sich immer mehr Bauern der Produktion von Qualitätswein annehmen, denn diese Landschaft hier entvölkert sich zusehends. Die Höfe werden von Rentnern bewirtschaftet, die Jungen ziehen in die nahen Städte. Dank des Timorasso kann ein Produzent mit Wein endlich etwas Geld verdienen, ich hoffe, das stimuliert manchen zum Weitermachen. Unsere Landwirtschaft braucht dringend einen Generationenwechsel.“

(Foto: Merum)
Superschicke Weinkeller mit Glas- Zement-Holz-Architektur, Party-Beleuchtung, Klinkerböden und elegantem Verkostungsraum gibt es hier keine. Immerhin schafften es die erfolgreicheren Winzer zu funktionellen Zementhallen mit der nötigen Kellerausstattung für die Qualitätsweinerzeugung. Bisher waren Barbera und der weiße Cortese das tägliche Brot dieser Winzer, für die Butter sorgt erst seit kurzem der Timorasso. Den Hauptumsatz machen die meisten Winzer noch immer mit dem Direktverkauf von Offenwein an Privatkunden aus der näheren und weiteren Umgebung. Der Großteil der Winzer ist allerdings noch nicht auf Touristenbesuche eingerichtet, Degustationen werden improvisiert, genaue Öffnungszeiten gibt es nicht. Wer sicher sein möchte, die Produzenten anzutreffen, sollte sich vorher anmelden. So schnell geht das nicht mit Booms. Auch wenn keiner der angetroffenen Winzer im Wohlstand lebt und nirgendwo mehr als die allernötigsten Investitionen getätigt werden, eines scheint der Timorasso bereits erreicht zu haben: Das Durchschnittsalter der Winzer hat sich in den vergangenen zehn Jahren praktisch halbiert. Walter Massa wirkt zwar wie ein spitzbübischer Junge, ist vom Jahrgang her jedoch der älteste der Gruppe. Toll ist, dass es Walter mit der Wiederentdeckung des Timorasso gelungen ist, die junge Generation wieder auf die Höfe zurückzulocken. Elisa von La Colombera, Stefano von Terralba, Francesco von Marina Coppi, Fabrizio Pernigotti und Paolo von I Carpini sind alle unter 40 Jahre jung und sehen wieder einen Sinn im Beruf ihrer Väter. Alle betonen sie zwar, dass ihre professionelle Liebe auch dem Barbera gilt, aber dass sie für den schwerverkäuflichen Roten auf dem Hof geblieben wären, ist unwahrscheinlich. Wie viele Winzersöhne und -töchter in diesen Jahren Weinbau studieren statt Jura oder Betriebs-wissenschaften, werden wir in den kommenden Jahren erfahren.

Massa versteht etwas von Öffentlichkeitsarbeit, er ist der Star des Timorasso, und die Rolle gefällt ihm auch. Aber er ist intelligent genug, seinen Ruhm mit der Appellation zu teilen und seine Kollegen großzügig an seinem Glanz teilhaben zu lassen. Er weiß, dass aus dem Timorasso nichts Rechtes wird, wenn er ihn für sich behält. Unsere Tortona-Woche war voller toller Erlebnisse. In deren Mittelpunkt standen Weine, Landschaften, Begegnungen mit Menschen und natürlich: das Essen! Ihnen, liebe Leser, empfehlen wir bei der Reise von Alba in die Toskana unbedingt die Ausfahrt Tortona! Die Kiste Timorasso im Kofferraum und ein Mittagessen im Da Giuseppe in Montemarzino oder ein Abend im Il Cavallino könnten den einmaligen Zwischenhalt in Tortona zur Regelmäßigkeit werden lassen.

Mehr zum Thema Timorasso

Artikel "Kultur und Identität der Colli Tortonesi" von Katrin Walter

Interview mit Walter Massa

Erzeuger aus der Region Colli Tortonesi im Weinführer

Mehr verwandte Stories

Alle anzeigen
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr
Mehr

Veranstaltungen in Ihrer Nähe

PREMIUM PARTNER