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Heißes Eis, flüssige Oliven und Holzkohleöl: Die durch den Starkoch Ferran Adriá berühmt gewordene Molekularküche hat die Aggregatzustände des Essens aufgehoben und so eine Küchenrevolution ausgelöst. Was aber ist molekulare Küche? Welchen Nutzen haben die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse wirklich? Beim Symposium „Die Reise des Xanthan” in Mainz, organisiert vom TreTorri-Verlag und der Redaktion ZDF.umwelt, suchten Wissenschaftler, Sterneköche und Journalisten eine Antwort.

 

 

Parade der Sterne: Top-Köche diskutierten mit Wissenschaftlern und Journalisten die molekulare Küche. Von links: Christian Kolb% Thomas Quecke% Jörg Sackmann% Hans Stefan Steinheuer% Joachim Wissler% Heiko Antoniewicz% Michael Hoffmann% Thomas Bühner


Olivenöl kommt als Grieß auf den Teller, die Olive wird dagegen flüssig serviert. Der Mascarpone ist so fest, dass er vom Löffel purzelt, die Spaghetti besteht aus Kalbskopf und die Karotte besticht durch wohlige Buchenholzaromen. Willkommen im Zauberreich der Molekularküche! Der katalanische Koch Ferran Adriá hat sie in seinem Restaurant „El Bulli” weltberühmt gemacht; mit seiner Arbeit ist Adriá 2007 zur Documenta 12 in den Rang eines Künstlers erhoben worden - und das nicht ohne Grund: Der Sternekoch hat die herkömmliche Sichtweise auf Gerichte und Zutaten dekonstruiert. Feste Zutaten verflüssigt er, Eis serviert er heiß, Flüssigem gibt er Form und Konsistenz. So hat er ganz neue Perspektiven auf die Küche möglich gemacht - und wird vom Publikum dankbar bejubelt. Auch in Deutschlands Spitzengastronomie ist die Molekularküche längst eingezogen: Juan Amador in Langen beispielsweise hat sich so mittlerweile drei Sterne erkocht, und sehr viele Top-Köche setzen die neuen Techniken und Methoden zumindest in einzelnen Gerichten ein. Denn Sterneküche ist immer auch Entertainment mit Essen, und die verwöhnten Gäste brauchen stets neue kulinarische Kicks, damit sie wiederkommen.

Eine ganz neue Küchenphilosophie, verrückte Gerichte zum Staunen und Überraschendes zum Erschmecken - dies ist ein Aspekt dieses Trends. Doch es gibt auch eine dunkle Seite: Die Molekularküche benötigt Hilfsmittel und Chemie aus der Lebensmittelindustrie, sonst eingesetzt bei Mayonnaise, Ketchup, Fertigdressing, Billigkäse und -wurst, Dosenfleisch und Tütensuppen. Stickstoff gehört ebenso dazu wie Sojalecithin, Maltodextrose, Cellulosederivat, Kalziumlactat, Carrageen oder Natriumalginat. Gehören solche Substanzen wirklich in die Sternegastronomie oder in die Küchen der Hobbyköche?

Das Mainzer Symposium „Die Reise des Xanthan” suchte Antworten auf diese Fragen. Der Titel ist abgeleitet vom gleichnamigen Verdickungs- und Geliermittel, auch als Lebensmittelzusatzstoff E 415 bekannt - und steht wie kein anderer Stoff für diesen Grundwiderspruch. Er ist als Öko-Zusatzstoff anerkannt und über die Rezepte der Molekularküche nun eben auch in den Gerichten der Sternerestaurants anzutreffen. Xanthan ist aber bereits seit Jahren unverzichtbar in der Industrie für die zähe Konsistenz von Ketchup, Senf, Mayonnaise, Hüttenkäse, Billigwurst und Zahnpasta.

 

 

 

 

Professor Thomas Vilgis vom Institut für Polymerforschung in Mainz streitet für ein anderes Verständnis der Molekularküche: „Dahinter steckt viel mehr als nur Pulver anzurühren.”

Die Wissenschaftler, Journalisten und eine Reihe renommierter Sterneköche taten sich schwer mit Antworten - denn die Molekularküche polarisiert. Für die einen ist es Küchendoping mit dunklen Substanzen für Betrug und billige Effekte. „Unsere Mägen werden mit Algenextrakten und unverdaulichen Zellulosen gefüllt. Was als Nutzung neuer technischer Möglichkeiten begann, entwickelt sich mehr und mehr zur Promotion für Lebensmittelzusatzstoffe”, betonte etwa der Stern-Autor Jörg Zipprick.

Das andere Lager propagiert die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Physik und Chemie für besseres, gesünderes Essen: „In der Molekularküche ist der gezielte Einsatz von aus der Nahrungsmittelindustrie bekannten Hilfsmitteln, wie Verdickungs- oder Geliermittel und E-Stoffe, nur als ein Teilaspekt anzusehen”, erklärte etwa Prof. Thomas Vilgis vom Max-Planck-Institut für Polymerforschung, einer der wichtigsten Wissenschaftler zur molekularen Küche. Es gehe viel mehr um den Blick des Forschers auf die Küche, um die bis heute weitgehend unentschlüsselten physikalischen und chemischen Reaktionen zu verstehen, die zum Gericht auf dem Teller führen. Die entdeckten Zusammenhänge könne man spektakulär wie Ferran Adriá nutzen, aber auch, um Garprozesse zu verbessern oder den Geschmack der Grundprodukte besser herauszuarbeiten.

Phasenweise erinnerte die emotional geführte Diskussion an die Dopingdebatte im Sport, allerdings mit dem Unterschied, dass die eingesetzten Substanzen nicht verboten sind. Noch bessere Sterneküche um jeden Preis? Sind Schäumchen, Gelee und Holzkohleöl es dem Gast wert, dabei jede Menge E-Stoffe zu sich zu nehmen? „Die Spitzenköche waren bislang die letzte Bastion gegen den Industrie-Fraß. Sie hatten Vorbildcharakter. Wenn sie jetzt umschwenken, um die Methoden der Industrie zu nutzen, ist das fatal”, warnte der Autor Hans-Ulrich Grimm.

Thomas Vilgis versuchte, das Terrain wissenschaftlich abzustecken: „Die Molekularküche zielt in ihrer Anwendung auf eine quantitative physikalisch-chemische Erfassung der Begriffe Geschmack, Struktur und Textur. Was ist Genuss? Wie bestimmen physikalische Parameter Geschmack und Sensorik?” Er betonte aber auch, die Molekularküche beschreibe „auf molekularer Ebene alle Prozesse, die durch physikalische Parameter wie Temperatur-, Druck-, Volumen- oder Feldstärkeänderung wie bei Mikrowellen ausgelöst werden und wie dadurch ausgelöste Phasenübergänge oder Änderungen des Aggregatzustands verstanden und kulinarisch genutzt werden können.”

 

 

 

 

Joachim Wissler betont in seinem Diskussionsbeitrag% er nutze Techniken der Molekularküche nur% um ein bestmögliches Produkt herzustellen: „Täuschung würden unsere Gäste sofort bemerken.”

Und die Köche selbst? Joachim Wissler vom Restaurant Vendôme in Bergisch-Gladbach, selbst mit drei Sternen ausgezeichnet, sah es differenziert: „Ich fahre jedes Jahr ins El Bulli, denn es eröffnet mir einen neuen Horizont.” Adriá habe alle Gesetze der Hochküche in Frage gestellt oder ignoriert. Daher sei „der Weg an sich sehr interessant”. Er selbst habe Stickstoff noch nicht nutzbringend umsetzen können - „obwohl ich ihn hier und da einsetze.” Der Dortmunder Gastroberater und Molekularexperte Heiko Antoniewicz betonte, durch die Molekulargerichte aus dem El Bulli hätten Köche erstmals angefangen, ihre Küche grundlegend zu hinterfragen: „Was ist Geschmack? Was ist Textur? Was tun wir?” Für ihn sei ist diese Form des Kochens „nur eine Option”. Das bestätigte auch Thomas Vilgis. „Mit einem Mittel wie ProEspuma bekommt man sogar abgestandenen Kaffee geschäumt. Karottenschaum erzeuge ich dagegen ganz einfach ohne Zusatzstoffe. Der Koch muss eben genau wissen, was er macht.”

Man ist, was man isst. Dr. Thomas Ellrott, Leiter der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle der Universität Göttingen, erläuterte die hochkomplexen geschmacklichen Prägungen, die wir im Laufe unseres Lebens erfahren. Dabei spielen genetische Aspekte ebenso eine Rolle, wie kulturelle und soziale. Er beschreibt beispielsweise dazu den  „mere exposure effect” - die Erfahrung, das Hineinschmecken in die Geschmacksangebote der Esskultur. So sei zu verstehen, warum Deutsche, Chinesen, Mexikaner oder Afrikaner völlig andere Geschmacksvorlieben haben. „In jeder Esskultur findet ein Training auf bevorzugte Lebensmittel und Speisen statt, das wesentlich über gewohnheitsbildende Erfahrungen gesteuert wird. Individuell unterschiedlich prägen sich Vorlieben und Abneigungen, die in der familiären und sozialen Kommunikation entstehen.”

 

 

 

 

Jörg Sackmann demonstriert die Komplexität der molekularen Küche.

Hier wurde der unauflösliche Widerspruch, der der Molekularküche innewohnt, noch einmal deutlich. Es kommt nicht auf den Stoff an, es kommt darauf an, was man wie daraus macht. „Ich will veredeln, nicht täuschen”, argumentiert etwa Joachim Wissler. Dasselbe Geliermittel, das aus Fleischtrümmern einen billigen Formschinken für den Discounter macht, hilft dem Sternekoch Hans Stefan Steinheuer, seine sorgsam dekorierte Vinaigrette zum Salat so zu stabilisieren, dass der Service sie ohne Schlieren auf dem Teller servieren kann. Xanthan in der Luxus-Vinaigrette löst Empörung aus, im Fertigdressing hingegen nicht, weil die Konsumenten die Konsistenz von Ketchup und Co ohnehin schon nicht mehr anders kennen.

So zeigt sich auch die immer größere Kluft zwischen denen, die sich bestes Essen im Sternerestaurant leisten können und denen, die Essen oft nur kaufen können, weil es immer billiger erzeugt wird. Die Sichtweise auf die Molekularküche ist also - wie jede kulinarische Erfahrung - gesellschaftlich geprägt. Schließlich sind die meisten Hilfsstoffe seit Jahren in reichlich großen Mengen in Industrienahrung zu finden, aber bislang hat das niemand so recht interessiert. Ferran Adriá hat die Diskussion wieder eröffnet, weil er die zum Erzeugen schlechter und geschmackloser Nahrung nötigen Zusätze kreativ für Gerichte der Sterneküche einsetzt. Schon ist die Empörung groß. Da zeigt sich: Man is(s)t unter sich.

 

 

 

 

Steinbutt mit Extraktöl% im Beutel 7 Minuten bei 54%8 Grad im Wasserbad gegart% darunter eine Spaghetti aus Kalbskopf und Agar-Agar. Obendrauf sind Tomaten. Gekocht von Thomas Bühner.

Thomas Vilgis definiert den Begriff aber weiter: „Die Molekularküche beschreibt das breite Verständnis von elementaren Zusammenhängen bei der Zubereitung aller Speisen.” Denn die Wissenschaftler waren sich in der Mainzer Diskussion einig: Bislang sind die Vorgänge nur oberflächlich entschlüsselt, die beispielsweise dazu führen, dass eine Tomate nach dem Anschnitt frisch riecht und nach wenigen Minuten bereits nicht mehr. Es gibt mehr Ahnungen als wissenschaftliche Erklärungen, was beim Backen, Garen und Rösten mit den Zutaten passiert - und was sie danach beim Essen physiologisch im Magen auslösen.

Der Biokoch Christian Kolb, bekannt durch die Sendung „Kochen für Kids” im ZDF, lehnt daher auch Molekularküche mit Zusatzstoffen ab. „Sie verändern womöglich die Appetitsteuerung, die Geschmacksbildung könnte sich auf Dauer verändern. Wir wissen nichts über die langfristigen Folgen.” Nur wegen „Hype und schönen Texturen” werde er die Industriepulver nicht kaufen: „Irgendwann sind die molekularen Zutaten auch in Kochsendungen zu sehen, und das will ich nicht.” Dennoch zeigte er beim Zubereiten beispielhafter Gerichte, dass er auch ohne Zusätze die Aggregatzustände in Adria-Manier verändern konnte: Er zeigte frische, trockene und flüssige Tomate, flüssiges Basilikum und einen kräftig-bissfesten Mozzarella. Sein Beispiel bewies, dass Molekularküche mehr ist, als mit Zusatzstoffen schönen Schaum herzustellen. „Es ist mehr als Effekthascherei und mehr als Pulver anrühren”, betont auch Professor Thomas Vilgis.

 

 

 

 

Thomas Bühner gart einen Steinbutt mit Extraktöl in der Folie bei knapp 55 Grad.

Ferran Adriá hat mit seiner ironischen, humorvollen, mit kindlicher Begeisterung vollführten Sterneküche-Demontage einen völlig neuen Blick aufs Essen möglich gemacht. Seine Spielereien mit Industrie-Zusätzen und Techniken sind dabei Requisiten für ein kulinarisches Theater, das mit allen Sinnen Lust auf neue Wege in der Küche macht. Ist das alles? Sicher nicht. Der analytische Blick auf die physikalischen und chemischen Prozesse beim Zubereiten von Essen ist viel nüchterner und vordergründig langweiliger, als den Koch freudig beim Experimentieren mit Stickstoff zu beobachten. Das aber ist der wesentliche Punkt: Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung können unser traditionelles Küchenverständnis und das daraus abgeleitete Handwerk verändern. Sie können den Umgang mit Zutaten und Zubereitung, Genuss und Geschmack neu definieren und ganz neue Gerichtekombinationen möglich machen. In der wissenschaftlich verstandenen Molekularküche sind Zusatzstoffe dazu nicht nötig. Sie steht dabei erst am Anfang, nicht einmal das Grundwissen ist verstanden  - und noch immer gilt der Satz des Oxforder Physikers Nicholas Kurti, der bereits 1993 mit seinem Aufsatz „The Physicist in the Kitchen” die theoretische Grundlage der Molekularküche formulierte: . „Es ist absurd, dass wir über die Temperatur im Zentrum der Sonne mehr wissen als über jene im Inneren eines Soufflés.”


Weitere Artikel zum Thema:

Ein Interview mit dem Organisator des Symposiums. 

 

 

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