Die benediktinischen Regeln wurden vor bald 1.500 Jahren im Kloster Montecassino von Abt Benedikt von Nursia geschrieben. Es sind 73 Kapitel, die das Leben der Mönche zur Zeit der auslaufenden Spätantike bis ins Detail bestimmen. Das Werk wurde im Laufe der Jahrhunderte im gesamten Abendland zur maßgebenden Mönchsregel, nach der sich die meisten Orden ausgerichtet haben, bis heute. Oft und gern zitiert wird das Kapitel 40, das unter anderem festhält: „...jeder Mensch hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so... mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Schwachen meinen wir, dass für jeden unserer Gemeinschaft täglich eine Hemina Wein genügt.“ Es taucht natürlich die Frage auf: Wie groß ist denn eine „Hemina“? Das zuverlässige Glossar von Wein-Plus.eu definiert: „Hemina = 0,274 Liter, altes Rom, Bechermenge.“ Doch das Maß der Hemina hat sich immer wieder verändert, vor allem dort, wo sie bis heute zur Tischtradition gehört, in vielen Klöstern.
Hemina% Tischwein vom Kloster Einsiedeln in der Schweiz (Foto: P. Züllig) |
Aus dem Angebot der Klosterkellerei Einsiedeln: „Hemina ist ein Tischwein, welcher aus mehreren Sorten verschiedener Herkunft zusammengestellt wird. Ein wesentlicher Anteil stammt aus unserer Eigenproduktion aus der ‘Leutschen’, der größere Anteil ist ausländischer Wein.“ Der Wein hat also – wohl seit der Sanktion durch den heiligen Benedikt – in vielen Klöstern bis heute eine Tradition. Tatsächlich, wo immer im Mittelalter Klöster gegründet wurden, hat sich rasch auch der Weinbau angesiedelt. Ob Benediktiner, Zisterzienser, Augustiner, Dominikaner, ja, selbst die Franziskaner (Bettlerorden), sie haben – wo immer es klimatisch möglich war – Reben angebaut. Zuerst, um den Messwein zu keltern, doch schon bald schon machte man auch Wein für den täglichen Gebrauch, denn schließlich hat der Benedikt, Urvater der Klostergemeinschaften, den Wein erlaubt. In vielen Klöstern wurde der Rebbau und das Keltern von Wein zu einer der wichtigsten Einnahmequellen. Heute können viele Klöster auf 900 und mehr Jahre Weinbau-Tradition zurückblicken. Viele große Weingüter und Weingegenden sind sowohl historisch als auch geografisch mit der Geschichte eines Klosters eng verbunden: Eberbach, Pforta, St. Hildegard, Cluny, Fontenay, La Oliva... Die Liste ist unendlich lang, viel länger als die der Klöster, die heute noch existieren.
Zisterziensterkloster Pforta an der Saale% eines der vielen in unterschiedlichen Jahrhunderten aufgehobenen Klöster (Foto: P. Züllig) |
Wein ist auch durch die Klöster zu einem wichtigen Kulturgut geworden und zu einem zentralen Wert in der christlichen Lehre. Die Eucharistie (Abendmahl oder Herrenmahl) mit Brot und Wein – je nach Glaubenslehre: Wiederholung des letzten Mahls Jesu mit seinen Jüngern, unblutige Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers oder Feier zur Erinnerung einer Tradition – wurde zum wichtigsten Symbol der christlichen Heilsbotschaft. Selbst in Frankreich – wo die Revolution so ziemlich alle Klöster weggefegt hat – lebt die klösterliche Weintradition bis heute weiter. Sie ist nicht nur in musealen oder verlassenen Klöstern in Stein gemeißelt, sie zeigt sich auch in vielen Weinbergen, die schon lange nicht mehr von Mönchen bewirtschaftet werden. Weingeschichten sind auch Klostergeschichten, und Klostergeschichten sind Weingeschichten. Aufgelöst wurden meist die Klöster, nicht aber ihre Weinberge. Das Kloster Eberbach (Rheingau) war zum Beispiel das älteste und bedeutendste Zisterzienserkloster in Deutschland. Es verfügte schon im 15. Jahrhundert über mehr als 300 Hektar Anbaufläche, die größte Deutschlands. Die Mönchsgemeinschaft gibt es seit 200 Jahren nicht mehr; zum Weingut Kloster Eberbach gehören aber noch heute 220 Hektar Reben, auf der Strecke von mehr als 100 Kilometern von der Hessischen Bergstraße bis nach Assmannshausen.
Kloster Eberbach im Rheingau% schon im Mittelalter größtes Weingut Deutschlands (Foto: P. Züllig) |
All dies – und noch ein einiges mehr – wurde mir wieder bewusst, als ich als Gast im Refektorium des Benediktinerklosters Disentis (Schweiz) zu Tische saß. Das Kloster liegt in den Bergen und besitzt keine eigenen Reben und kein Weingut. Es kam auch keine Hemina Wein auf den Tisch, da stand vielmehr eine Flasche mit dem Bild des früheren Abts Pankraz, der einst mein Klassenlehrer war. Hommage an den Wein oder Hommage an den Klassenlehrer? Ich weiß es nicht.
Klosterwein der Benediktiner in Disentis in der Schweiz (Foto: P. Züllig) |
Das Bild meines Klassenlehrers und späteren Abts machte mir schlagartig bewusst, welch umfassende Kultur – auch ein gutes Stück christlicher Kultur – in der Geschichte des Weins steckt: Entwicklung vom schlichten Agrarprodukt zum hochbezahlten Luxusgut, vom einfachen Weinbauern bis zum millionenschweren Château-Besitzer, von der klösterlichen Hemina bis zum Prestigewein im mundgeblasenen Glas, von ein paar Reben auf wenigen Ar bis zu den riesigen Rebflächen auf hundert und mehr Hektar, vom Weinhändler am Ort bis zur internationalen Online-Vermarktung, vom klösterlichen Weinbau bis zum Auktionsbetrieb in Millionenbeträgen. Und immer geht es um das gleiche Produkt – in seiner Grundsubstanz kaum verändert –, um den Traubensaft, der zu Wein wird. Die Kulturgeschichte des Weins – sie ist zwar längst geschrieben, verirrt sich aber immer wieder, in all den Jahrhunderten bis heute, in profane Genuss- und Gewinnsucht. Der heilige Benedikt schrieb deshalb in seinen Regeln: „...zwar lesen wir, Wein passe überhaupt nicht für Mönche, weil aber die Mönche heutzutage sich davon nicht überzeugen lassen, sollten wir uns wenigstens darauf einigen, nicht bis zum Übermaß zu trinken, sondern weniger. Denn der Wein bringt sogar die Weisen zu Fall.“
Herzlich
Ihr/Euer