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Wieder ist ein Jahr vorbei! Ich bin um ein Jahr älter geworden, meine Weine im Keller auch. Den einen tut das gut, den andern weniger. Es ist auch wieder einmal Zeit, Bilanz zu ziehen. Abzurechnen mit dem, was ein Jahr gebracht hat oder nicht, Soll und Haben. In einer Weinkolumne natürlich auf Wein bezogen. Soeben läuten die Glocken, zwei Minuten lang, Frühläuten, es ist sechs Uhr am Morgen. Die einen ärgern sich, Schlafstörung, andere freut es: Tradition in einem einstigen Bauerndorf, das zur Agglomerationsgemeinde wurde. Die Glocken mögen – so schreibt die Kirchenbehörde – „zur Besinnung und zum kurzen Einhalt in unserer hektischen Lebensweise aufrufen und nicht primär schlafend genossen werden.“ Nein, ich schlafe nicht, ich sitze vor dem Bildschirm und versuche, mich zu besinnen – Erinnerungen an das vergangene Jahr.

 

Am Schluss des Jahres wird Bilanz gezogen. Was ist an Weinerinnerungen geblieben? (Foto: Peter Züllig)

Dabei ist auch so mancher Wein, der mir in Erinnerung geblieben ist. Zum Beispiel die erste ernsthafte Begegnung mit australischen Weinen vor Ort, genau vor einem Jahr, im Barossa Valley. Oder eine letzte Begegnung mit Thomas Mattmann, dem noch jungen Winzertalent, der aus dem Leben geschieden ist. Freuden und Leiden eben, auch im Spannungsfeld zwischen Mensch und Wein. Und was ist das? Computer zeigt an: „Harddisk bald voll!“ Leicht genervt öffne ich das Verzeichnis – was kann ich löschen, was muss ich aufbewahren? Da stoße ich auf einen recht prall gefüllten Ordner: „660 Elemente, 2.92 Gigabyte, Autor: nicht bekannt, Titel: hinzufügen; Kommentare: leer“. Nur der Name des Ordners liefert den Hinweis: „Geburtstagsreise“. Der Autor bin ich. Tatsächlich sind es 660 Fotos von einer Fahrt durch schweizerische Weingebiete, unausgewertet, abgelegt, so, wie sie geknipst wurden. Leicht verdutzt öffne ich die Bilder, eines nach dem anderen, 660 an der Zahl. Viele Motive wiederholen sich, andere sind nicht ganz scharf, verwackelt oder verkantet, oft mit störenden Elementen wie Baukränen oder Stromleitungen. Doch die Erinnerung kehrt zurück.

 

Erinnerung an eine Weinreise. Sie beginnt in einem wenig bekannten Weingebiet% im Kanton Aargau. (Foto: Peter Züllig)

Es beginnt mit einem relativ kleinen Weingebiet. Schon so oft bin ich auf der Autobahn oder mit dem Zug daran vorbeigesaust, auf der Fahrt nach Basel oder Bern. Der Aargau, vor 150 Jahren noch ein großes Weingebiet, das inzwischen längst zusammengeschrumpft ist auf etwa zehn Prozent der einstigen Fläche, knapp 300 Hektar groß. Da gibt es noch einige schöne Weindörfer, wie Elfingen, Eldingen, Tegerfelden, auch historisch bedeutende Orte wie das Stammhaus der Habsburger, die einst europäische Geschichte geprägt haben. In der Wiss-Trotte in Tegerfelden lockt ein kleines Weinbaumuseum, das (natürlich) geschlossen ist. Schließlich hat es nicht auf meinen Geburtstag gewartet. Also das nächste Mal: Öffnungszeiten beachten, voranmelden. Es hat noch kein nächstes-Mal gegeben, der Aargau ist in meiner heutigen Bilanz auf der Soll-Seite geblieben. Jetzt nur keine Zeit verlieren, unser Geburtstagsreiseziel liegt weit im Westen, am Genfersee. Das Lavaux ist das Schmuckstück unter den schweizerischen Reblandschaften. Auf dem Weg dorthin hat sich aber etwas Unvergessliches in das Haben-Konto eingetragen.

 

Da beste Fischessen des Jahres im Restaurant „Au trois Amis“ (Zu den drei Freunden) – hoch über dem Bielersee. (Foto: Peter Züllig)

Ein Fischessen auf einer Terrasse hoch über dem Bielersee, ungeplant, einfach als Resultat des Hungers. Hoch über Ligerz – eigentlich ganz versteckt – habe ich wohl das schönste und beste und glücklichste Essen des vergangenen Jahres genossen. In einem Gasthaus, das sich „Au trois Amis“ nennt und schon im Wappen ein Geheimnis birgt: „O√9Ami[mi als Musiknote]24494“ – und das mit der zutreffendsten aller Werbungen lockt: „Die Augen schweifen von den nahen Reben zur Petersinsel hin zu den Alpen, zurück zum glitzernden See. Der Blick in den Himmel zeigt, was die Seele längst schon wusste: Die Winde wehen günstig, die Sonne streichelt die Haut – die Welt meint es gut mit uns.“

Was lässt Goethe Faust doch ausrufen: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön.“ Weiter mag ich nicht zitieren, wir müssen weiter, noch liegt der Neuenburgersee vor uns, das nächste größere Weingebiet.

 

Ligerz – ein Weingebiet am Bielersee. Vorgelagert die St.-Peters-Insel (auch Rousseau-Insel genannt). (Foto: Peter Züllig)

Und schon stehen wir wieder in einer weingeschichtsträchtigen Gegend, gut tausend Jahre alt oder noch älter. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges sollen sogar die Schweden die süffigen Weine entdeckt haben, „die sie in so großer Menge bezogen, dass überall neue Reben angepflanzt wurden“. So jedenfalls schreibt es der Chronist. Heute ist Boudry – wie so viele andere ehemalige Weingemeinden – ein Industrieort. Wie verloren thront der „Tour de Pierre“ über dem See und lädt zur Degustation ein sowie zur näheren Bekanntschaft mit der Saucisson, einer der berühmtesten Neuenburger Spezialitäten: einer geräucherten Rohwurst zum Kochen, in einen geraden Rindsdarm gestoßen. Natürlich hat man auch hier nicht auf meinen Geburtstag gewartet. Der Turm ist geschlossen. Es bleibt mir, das 1876 im neo-gotischen Stil erbaute Monument zu bestaunen und daran erinnert zu werden, dass die Bausteine aus mittelalterlichen Türmen und Kirchen stammen, also viel, viel älter sind… Wieder ein Eintrag auf der Soll-Seite meiner Bilanz.

 

Kein Wehrturm% sondern ein Weinkeller aus dem 19. Jahrhundert% der "Tour de Pierre" am Neuenburgersee. (Foto: Peter Züllig)

Das eigentliche Erlebnis, quasi der „Magic Moment“ einer Fahrt ins Weingebiet des Lavaux ist der Blick von der Höhe bei Pouidoux über die Rebhänge und den Genfersee, bis hinüber zu den oft im Nebel liegenden Savoyer Alpen. Wir schaffen es gerade noch, den Augenblick auch wirklich zu genießen, bevor die Nacht einbricht. Ganz spontan kommt mir ein Zitat von Charles Ferdinand Ramuz, dem Dichter dieser Gegend, in den Sinn: „Man fühlt sich nur dort zu Hause, wo man begraben sein möchte.“ Begraben möchte ich noch nicht sein, aber hier zu Hause. Ein Eintrag unter Haben ist getan, das Gewitter, das sich ankündigt, mag kommen. Die Bilanz ist ausgeglichen. Noch steht der nächste Tag auf dem Programm. Es geht zum Einfluss der Rhône in den See. Berühmte Namen huschen vorbei: Epesses, Yvorne, Dézalay, Aigle… und berühmte Lagen. Das neue Vinorama in Riva, in der kleinsten Gemeinde des Kantons Waadt (0,32 km2), ist zwar offen, doch uns fehlt die Zeit, glauben wir… weiter… wieder ein Vermerk in der Soll-Bilanz.

 

Das Panorama des Lavaux am Genfersee Richtung Wallis. (Foto: Peter Züllig)

Wir sind im Chablais, dem östlichsten Weingebiet der Waadt. Die Rebberge, oft in Geröllhalden angelegt, sind kalkhaltig, steinig, sogar gipsig. In Bex erreichen wir die Grenze zum Wallis, dem größten Weinkanton der Schweiz. Ein Paradies für Weinfreunde, vor allem für jene (wie mich), die auch das Exotische lieben. Es gibt kaum ein Weingebiet, in dem auf so kleiner Fläche so viele autochthone Rebsorten zu finden sind (und auch gepflegt werden). Wir stehen am Tor zum Wallis, in Martigny. Hoch über dem Ort (6.000 Einwohner) sind nicht nur Berge, sondern auch Weinberge. Schon fast etwas trotzig schauen sie herab.

 

Weinberge in den Bergen. Reben bei Martigny im Wallis. (Foto: Peter Züllig)

Sie ziehen sich dem Tal und den Tälern entlang hinauf, bis zu Visperterminen, dem höchstgelegenen Weinberg Europas. Hier muss ich die Weinbilanz schließen: Es locken andere Sinnesfreuden, Bilder von Monet in der Fondation Pierre Gianadda, einem der schönsten Kunstmuseen der Schweiz. Da hat sich die Bilanz ganz geschlossen, deutlich im Haben. Erinnerungen in Bildern! Vor ein paar Jahren wurde im Forum von Wein-Plus gefragt, welcher Wein passt zu „La Pie“ von Claude Monet, einer Winterlandschaft mit einer Elster. Die Antwort kam damals von einem aktiven Forumsteilnehmer: „Ich denke, ein nicht zu schwerer Weißburgunder würde dazu gut passen.“ Meine Antwort heute: „Ein Chasselas, zum Beispiel der elegante und doch ausgeprägt kräftige Maison Blanche aus Yvorne oder La Fosse aus St. Saphorin.“ Bilder – nicht Worte – haben diese Bilanz geprägt. Rein zufällig, weil die Festplatte „fast voll“ war. Da hat sich sogar das Soll aufgelöst – ist zum Haben geworden. Ein Haben – festgeschrieben in der Seele.

Herzlich
Ihr/Euer

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