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Das Alpental, das Norditalien mit dem schweizerischen Wallis und dem französischen Savoyen verbindet, bietet dem Besucher auch Überraschendes. Wer ahnte schon, dass es in Aosta trockener ist als in Apulien, obschon vier über 4000 Meter hohe Alpenmassive mit ihren Gletschern und Schneekuppen das Klima bestimmen. Erstaunlich ist auch, dass die Weine des Aostatals mitnichten kühle, nordische Typen sind, auch wenn der höchste Weinberg auf über 1200 Metern Höhe liegt. Das Aostatal wird von mehr Touristen besucht als es Weinflaschen produziert, gleichwohl suchen die Winzer heute den Kontakt zu Weinfreunden und Händlern außerhalb der Region. Dieser Bericht beschreibt die Entwicklung der Winzer dieses sonderlichen französisch-schweizerisch-italienischen Grenzlandes von Selbstversorgern und Kofferraumbeladern zu Vertretern einer ernstzunehmenden Appellation.

Der Mont Blanc bestimmt die Skyline des Aostatals (Foto: Merum)

Schneegipfel, mit Kuhfladen verzierte Alpenflora und Wanderwege am Rande von Abgründen sind eigentlich nicht so unsere Leidenschaft. Uns ziehts zu Meer, Pinienwäldern und Olivenhainen. Der kurze Besuch im Disney-Alpendorf Courmayeur war ein schierer Albtraum. Dort geht es offenbar nur darum, temporäre Stadtflüchtige möglichst effizient abzuzocken, und nichts, aber auch gar nichts an Echtem, Bodenständigem ist mehr übrig. Zehnmal lieber ein Goldbrassen-Carpaccio in einer Hafenkneipe von Livorno oder Gallipoli als eine Tiefkühlpizza mit Löwenbräu im Schatten des Monte Bianco! Aber zum Glück ist Courmayeur nicht gleich Aostatal, sondern lediglich eine multiethnische, austauschbare Wintersport-Enklave.

Es war nach dem für Ausgehungerte konzipierten Mittagessen bei der Jolie Bergère auf 1700 Metern, als wir wirklich bereuten, unser Reiseprogramm so straff organisiert zu haben. Gleich hinter dem Bergrestaurant beginnt dort Alpenwelt pur. Kein Klischee! Die kühle, reine, trockene, würzige Luft war einfach überwältigend. Die Pflanzenwelt mit Sorten und Blüten, wie wir sie zierlicher und reichhaltiger noch nie gesehen haben, lud uns zum Verweilen und Betrachten ein. Leider folgten wir dieser Einladung nicht. Vielleicht hätten wir den nächsten Termin einfach platzen lassen sollen und in dieser so rein wirkenden Alpenwelt ein paar Schritte, vielleicht auch ein paar Stunden wandern sollen.

Von seiner 200jährigen Geschichte legen in Aosta zahlreiche Bauwerke Zeugnis ab. Die Römer gründeten Aosta - Augusta Praetoria - Im Jahr 25 v.Ch. (Foto: Merum)

Nach unseren Erfahrungen im Aostatal können wir nun bergsüchtige Sommerfrischler jedenfalls besser verstehen. Die Alpen sind ja groß genug, es gibt jede Menge Täler und Orte, wo Gastfreundschaft und Naturwiesen noch nicht vom Massentourismus zertrampelt worden sind. Auf unserer Tour durchs Aostatal kamen wir trotz Hochsaison – Courmayeur ausgenommen – mit unangenehmen Phänomenen touristischer Ursachen nicht in Berührung.

Valle d’Aosta, ein sehr anderes Italien.

Das Aostatal ist die kleinste Region Italiens und weist viele Gemeinsamkeiten mit dem Südtirol auf. Wie dieses besitzt das Aostatal seit Ende des Zweiten Weltkrieges einen Sonderstatus, was der Region wesentliche finanzielle Vorteile bringt. Italienisch und Französisch sind offiziell gleichgestellte Amtssprachen. Im Unterschied zu den Südtirolern fühlen sich die Einwohner des Aostatals allerdings stark mit Italien verbunden. Gesprochen wird jedoch nicht französisch, sondern ein auch für Französischsprechende kaum verständlicher Dialekt – der „Patois“.

Beim Bummel durch die verkehrsfreie Hauptstraße Aostas wird der Besucher immer wieder zu kulinarischen Einkäufen verführt (Foto: Merum)

Das Aostatal gehörte seit dem 11. Jahrhundert zu Savoyen und kam erst 1861 zu Italien. Klimatisch und kulturell gibt es viele Gemeinsamkeiten mit dem schweizerischen Wallis. Mit dem nördlichen Nachbarn verbindet Aosta auch der Augustiner-Orden am Großen St. Bernard-Pass. Die seit 1000 Jahren im Hospiz Château Verdun (zwischen Aosta und dem Großen Sankt Bernhard) ansässigen Mönche aus Martigny haben viel für das Aostatal getan und in den 50er-Jahren unter anderem die École d’Agriculture gegründet, heute: Institut Agricole Régional. Mangels Nachwuchs müssen die Mönche nach 1000 Jahren nun ihre Stellung im Hospiz aufgeben.

Die augenfälligste Besonderheit des Aostatals sind diese weißen Gipfel, die einem ins Auge fallen, wo immer man den Blick hebt. Von vier gewaltigen 4000ern wird das Tal dominiert: Montblanc (4810 m), nach dem kaukasischen Elbrus der zweitgrößte Berg Europas, Matterhorn (4478 m), Monte Rosa, mit 4634 Metern zweithöchster Berg der Alpen, und Gran Paradiso (4061 m), einziger Viertausender gänzlich auf italienischem Territorium. Diese Berge charakterisieren die Region, das Klima und auch den Weinbau. Das Klima ist trocken und windig, die Trauben profitieren von hohen Temperaturschwankungen. Winzer Vincent Grosjean: „Noch während der Weinlese haben wir extreme Temperaturschwankungen. Nachts gehen die Temperaturen bis auf 5 Grad runter und steigen dann tagsüber auf 25 Grad.“

Die klimatischen Bedingungen werden aber auch stark von der Dora Baltea beeinflußt, die das Aostatal auf seiner ganzen Länge begleitet. Auf den beiden Seiten des Flusses herrschen unterschiedliche mesoklimatische Bedingungen, welche die Winzer bei der Rebsortenwahl berücksichtigen müssen.

Renato Anselmet: „Wir Winzer des Aostatals verspüren eine enge Verbundenheit mit unserer Region. Ohne unsere Arbeit würde diese wunderschöne Landschaft nicht überleben können. Es geht uns auch darum, die Landschaft zu erhalten, nicht allein um die Erzeugung von Wein. Ein Kulturgut muss gepflegt werden, und dessen sind wir Winzer uns bewusst.“

Ecken und Kanten haben hier nur die Berge

Obschon wir das Aostatal auf dem Weg in den Norden oft durchfahren und beim Vorbeiziehen der Weinberge links und rechts an den Berghängen versuchen, uns die Weine vorzustellen, haben wir außer Treibstoff fürs Auto hier nie was getankt. Dass das falsch war, wissen wir nun. Falsch war aber auch die Vorstellung, die wir uns von diesen Weinen machten. Wir erwarteten säuerliche, grüne Weine, geeignet nur, um auf der Alm am Kaminfeuer geschmolzenen Fontina-Käse runterzuspülen. Wir waren nun ziemlich überrascht, dass die Aosta-Weine, obschon in großer Höhe angebaut, kaum je dünn oder grün sind und kaum je eine hohe Säure oder bittere Tannine aufweisen.

Fontina ist einer der charaktervollsten Käse Norditaliens ... wenn er vom richtigen Affineur stammt (Foto: Merum)

Wenn die Aosta-Weine zwar etwas weniger alkoholreich sind als im südlicheren Italien, aber trotzdem zumeist füllig, konzentriert, recht kantenarm und ohne störende Säure, dann hat dies mehrere Gründe. So wenig der Merlot in warmen Gebieten spannende Weine ergibt, so schlecht eignet sich ein Cabernet für spätreifende Anbauzonen. Im Aostatal ändern sich die Anbaubedingungen alle paar Kilometer. Würde nur eine Sorte zur Verfügung stehen, dann ergäbe diese nur in bestimmten Lagen ausgewogene Weine, weiter oben hingegen würde es mit der Ausreife prekär, während in tieferen Lagen Überreife Feinheiten verhindern würde.

Ähnlich wie im Südtirol hat sich im Aostatal im Laufe seiner Geschichte eine ganze Reihe von Sorten eingebürgert, von denen alle nur in einem bestimmten Bereich des Tals angebaut werden. Zum andern hat das gesamte Aostatal in den letzten zehn Jahren einen Qualitätsschub erfahren. Die Kellereien wurden modernisiert und auf den neuesten technologischen Stand gebracht.

Wo bleiben die säurebetonten, kantigen Weine, die man von diesen hohen Lagen mit fast extremen Temperaturunterschieden erwarten würde? Der Großteil der Weine hier wirkt eher mollig und rund, auch die Weißweine lassen oft Säure vermissen.

Daniele Domeneghetti (Institut Agricole Régional): „Die Weine des Aostatals sind sehr aromatisch, insbesondere die Weißweine. Die Rotweine sind relativ hell und verfügen über wenig Tannin. Das liegt an den Böden, die sehr locker, sandig und steinig sind. Viele Rebsorten, die in anderen Regionen säurebetonte Weine ergeben, entwickeln sich im Aostatal anders. Die Weinkundschaft des Aostatals mag keine hohe Säure und auch kein aggressives Tannin. Die Weine ähneln ein bisschen den Weinen aus dem Wallis, die ebenfalls eine geringe Säure aufweisen. Auch wenn wir den Wein länger auf der Maische lassen, extrahieren wir nicht wesentlich mehr Tannine. Unsere Böden ergeben nun mal diese Eigenschaften.“

Vincent Grosjean: „Wir leben in einem Tal, das von den höchsten Bergen Europas umgeben ist. Sie schützen die Region und beeinflussen unser Klima. Bedenken wir nur, dass der mittlere Talabschnitt um Aosta, wo die Weinberge auf 550 bis 900 Metern über dem Meeresspiegel liegen, zu den trockensten Gegenden Italiens zählt. Hier haben wir nur 450 mm Niederschläge im Jahr. Der Montblanc hält alle vom Atlantik kommenden Unwetter vom Tal ab. In den Bergen kommen wir bereits auf 800 mm Niederschläge pro Jahr. All unsere Weinberge sind auf künstliche Bewässerung angewiesen. Auch im Mittelalter hatten die Bauern mit diesen Trockenheitsproblemen zu kämpfen.“

Vielfalt der Lagen ...

Im Aostatal gibt es eine einzige, umfassende Appellation, die Valle d’Aosta DOC, die wiederum in viele kleine Unterzonen aufgeteilt ist. Wie das Piemont kennt das Aostatal keine IGT-Kategorie. Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde vorwiegend Rotwein erzeugt, erst in jüngerer Zeit werden verstärkt weiße Rebsorten gepflanzt. Noch heute jedoch ist die rote Petit Rouge die meis­tangebaute Rebsorte.

Um die Vielfalt der Weine zu verstehen, muss man das Aostatal geographisch betrachten. Vom ampelographischen Gesichtspunkt her gehören Donnas und Carema, die letzte Gemeinde des Piemonts an der Grenze zum Aostatal, zusammen, da hier wie dort ausschließlich Nebbiolo angebaut wird. Carema ist nur vier Kilometer entfernt von Donnas.

Im Aostatal wird der Nebbiolo Picotendro (piccolo und tenero: klein und zart) genannt. Man unterscheidet zwei DOC für Nebbiolo-Weine, den Valle d’Aosta Donnas DOC und den Valle d’Aosta Nebbiolo DOC für junge Weine. In Donnas gibt es nur zwei Produzenten, die Nebbiolo kommerziell abfüllen: Die Kellereigenossenschaft und Le Selve von Rolando Nicco, der allerdings keine DOC-Weine erzeugt.

Die Keller im Aostatal sind in der Regel sehr klein. Im Bild die Cantina von Rolando Nicco in Donnas (Foto: Merum)

Die Lagen der DOC Donnas sind wahrlich spektakulär. Der nördliche Teil der Weinberge wurde auf einem alten Erdrutsch errichtet, wo die Steine von vergangenen Generationen zu meterdicken Mauern aufgeschichtet worden sind. Im Zentrum der so entstandenen, schmalen, eingemauerten Parzellen wurde alle Erde, die man finden konnte, gesammelt und dort die Reben gepflanzt. Ein unglaubliches Menschenwerk aus einer Zeit, als Wein noch wertvoll gewesen sein muss… Weiter südlich hingegen, bereits auf dem Gemeindegebiet von Pont-Saint-Martin, stehen die Nebbiolo-Weinstöcke auf schmalen Terrassen, die von Steinmauern und riesigen Felsbrocken gestützt werden. Wer hier Wein erzeugt, muss wirklich verrückt sein! „Verrückt“, natürlich im absolut bewundernden Sinn.

Eine andere Art von Verrücktheit legen einige Leute an den Tag, die dieses einzigartige Kulturgut mit Baggern einebnen wollen. Als Argument dafür haben sie nichts Gescheiteres vorzubringen als die Reduzierung der Produktionskosten. Zum Glück wiesen bei einer diesem Vorschlag gewidmeten Versammlung die alten, störrischen Winzer dieses Vorhaben erschreckt und empört zurück. So werden sie weiterhin mit ihren dreirädrigen Lastrollern in die Weinberge fahren und absolut ineffizient mit mühevoller Handarbeit ihre paar Rebstöcke pflegen und die Trauben in die Cantina Sociale bringen. Dank sei ihnen! Rolando Nicco, der einzige dieser Verrückten, der seine Trauben selbst vinifiziert, hat Recht, wenn er meint, dass diese Landschaft als Weltkulturerbe unter Schutz gestellt werden müsse.

Nördlicher, in Chambave, steht kein Nebbiolo mehr, sondern Muscat. Hier spielen Süßweine die Protagonistenrolle. Die Genossenschaftskellerei Crotta di Vegneron ist größter Produzent.Weiter im Norden, im zentralen Talabschnitt um Aosta, dominiert die rote Sorte Petit Rouge. Östlich der Stadt heißt ihr Wein Torrette DOC. Neben diesem sind hier aber auch der Fumin und die weiße Petite Arvine zuhause. Das Herz des Weinanbaus bilden die Dörfer Aymavilles, Sarre, St. Pierre und Villeneuve mit autochthonen wie auch internationalen Sorten. Dino Darensod, Präsident und Mädchen für alles der Cave des Onze Communes: „Wir befinden uns hier in der Appellation Torrette. Elf Gemeinden dürfen den Valle d’Aosta Torrette DOC erzeugen. Daher kommt unser Name Cave des Onze Communes.“

Flussaufwärts, westlich von Aosta liegt Arvier, wo, ebenfalls aus Petit Rouge, der Rotwein L’Enfer d’Arvier DOC entsteht. Seit Jahrhunderten wird in Arvier Wein erzeugt. Der Wohlstand des Ortes beruht auf der ausgesprochen warmen Lage L’Enfer – und dies auf 800 Metern über Meer. L’Enfer, die Hölle, verdankt ihren Namen den extremen Klimabedingungen. Es herrschen in diesem Kessel fast Windstille und hohe Temperaturen, da auch die Felsen die Sonnenstrahlen reflektieren. Das besondere Mikroklima ließ die Bewohner hier schon im Mittelalter Reben anbauen. Die zumeist terrassierte Lage ist sechs Hektar groß.

In der Lage L'Enfer bei Arvier ist das Klima so mild% dass auch Kiwi und andere wärmebedürftige Pflanzen gedeihen (Foto: Merum)

Noch weiter talaufwärts liegen die höchsten Weinberge Europas, wo in den beiden Gemeinden La Salle und Morgex aus der weißen Rebsorte Prié blanc der Blanc de Morgex et de La Salle DOC gekeltert wird. Die Sorte wächst zwischen 900 und 1200 Metern, wobei die höchsten Weinberge in La Salle bis auf 1225 Meter hinauf klettern. Auf den extrem mageren, sandigen Böden moränischen Ursprungs – vor 6000 Jahren schob sich hier noch ein Gletscher talwärts – wächst der Prié blanc ohne Unterlagsreben. Diese Besonderheit verdankt die Appellation der Tatsache, dass die Reblaus in dieser Höhe nicht überleben kann. Zusätzlich soll der Prié blanc eine genetische Resistenz gegenüber der Reblaus besitzen. Studien darüber werden an der Universität Ancona durchgeführt.

In der Vergangenheit vinifizierten die ansässigen Winzer den Prié blanc und tranken den Wein entweder selbst oder verkauften ihn in Korbflaschen an Privatkunden. Der Pfarrer von Morgex, Don Bougeat, war überzeugt, dass dieser Wein Besseres verdiene und ließ ihn im Jahr 1964 erstmals abfüllen. Heute werden vom Blanc de Morgex et de La Salle DOC rund 200 000 Flaschen produziert.

Die Lagen des Aostatals unterscheiden sich aber nicht nur durch die Höhenlage und die Bodenzusammensetzung, sondern auch von der Ausrichtung her. Im Mittelteil des Tals, wo die meisten Weinberge stehen, ist diese Differenz besonders deutlich. Dino Darensod: „Die Weine auf der Südseite der Dora Baltea sind konzentrierter, die von der Nordseite dafür frischer und aromatischer.“

Vielfalt der Sorten ...

Es mag erstaunen, dass der Moscato bianco (Muscat de Chambave DOC) und der Pinot grigio (Malvasie de Nus DOC) neben einheimischen Sorten wie Nebbiolo, Prié blanc, Petit rouge, Premetta, Fumin oder Cornalin zu den ältesten Rebsorten des Aostatals gehören. Pinot grigio wurde im Aostatal bereits im Mittelalter angebaut. 1838 klassifizierte der Wissenschaftler Francesco Gatta 62 Rebsorten im Aostatal. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangten im Laufe der neuen, schrecklichen Rebkrankheiten (Echter und Falscher Mehltau, Reblaus) Sorten wie Dolcetto, Freisa, Barbera, Grignolino aus dem nahen Piemont nach Aosta.

Die Festung von Bard (Foto: Merum)

Heute ist von diesem piemontesischen Sortenerbe allerdings kaum mehr etwas vorhanden. Vincent Grosjean: „In den Nachkriegsjahren ging der Weinbau stark zurück, der Großteil des Weins wurde nur noch zum Eigenkonsum erzeugt. Natürlich litt darunter die Qualität. Man pflanzte vorwiegend Sorten, die hohe Erträge versprachen. In den 80er-Jahren schließlich besannen sich viele Winzer wieder der traditionellen Rebsorten und pflanzten Fumin, Cornalin, Mayolay.“

Der Schweizer Geistliche Joseph Vaudan führte als Direktor der regionalen Landwirtschaftsschule in Aosta in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren eine Reihe von Rebsorten ein, wie sie auch im Wallis angebaut werden. Damit wurde mit Müller-Thurgau, Chardonnay und Petite Arvine sowie Pinot Noir, Gamay, Syrah und Merlot eine dritte Gruppe von Sorten im Aostatal heimisch.

Eine vierte ampelographische Blutauffrischung erfolgte Ende des 20. Jahrhunderts, als Sorten wie Gewürztraminer, Sauvignon, Viognier, Cabernet Sauvignon und andere – wenn auch ohne große Verbreitung – angesiedelt wurden.

Vincent Grosjean: „Für Außenstehende ist es vielleicht schwer zu verstehen, warum wir so viele unterschiedliche Rebsorten anbauen. Doch jede von ihnen hat ihre Berechtigung, jede hat ihre besonderen Eigenschaften, und jede braucht andere Anbaubedingungen. Viele dieser Rebsorten werden erst seit Kurzem wieder angebaut, sie stehen noch unter Beobachtung, aber manche bringen bereits gute Ergebnisse.

Die Nebbiolo-Steillagen von Donnas nahe der Grenze zum Piemont (Foto: Merum)

Natürlich kostet es uns eine Menge Geld und erfordert viel Platz, so viele unterschiedliche Weine zu erzeugen und auszubauen. Dann kommt noch hinzu, dass die einzelnen Rebsorten zu unterschiedlichen Momenten reif sind. Wir benötigen 40 Tage für die Weinlese. Der Müller Thurgau und der Pinot grigio reifen als erste, der Fumin hingegen wird erst gegen Ende Oktober geerntet.“

Renato Anselmet: „Wir erzeugen so viele unterschiedliche Weine, weil wir so große Höhenunterschiede haben. Eine Rebsorte, die auf 500 Metern wächst, kann ich auf 900 Metern nicht anbauen. Jeder Rebberg hat seine besonderen Eigenschaften und verlangt nach der Rebsorte, die dort besonders gut gedeiht. Auch die Weinlese zieht sich sehr in die Länge. Den Gewürztraminer ernte ich manchmal erst Ende November."

Costantino Charrère setzt sich für die alte Sorte Premetta ein. Sie soll eng mit dem Prié Blanc von Morgex verwandt sein. Ein Premetta-Klon macht weiße, der andere rosafarbene Trauben. Aber auch die rosafarbene Premetta ist punkto Farbe sehr unzuverlässig: „Im letzten Jahr hatte der Wein nicht die gewollte und gewohnte Roséfarbe, sondern war weiß. Er ähnelte einem Pinot grigio. Seit vier Jahren verarbeiten wir den Premetta-Wein zu einem Metodo Classico. Momentan arbeiten wir noch mit dem Institut Agricole Régional zusammen, was die Spumantisierung betrifft, aber ab 2011 werden wir den Schaumwein in unserem eigenen, neuen Keller elaborieren. 3000 Flaschen gibt es davon. Ich habe mich sehr für diese Rebsorte eingesetzt und sie vor dem Aussterben bewahrt, indem ich dafür gesorgt habe, dass sie wieder in das Produktionsreglement Aosta DOC aufgenommen wird.”

Costantino Charréres Spitzenlage Côteau la Tour in Aymavilles bei Aosta (Foto: Merum)

Auch der Fumin liegt Charrère am Herzen, da er für diesen Wein ein großes Alterungspotential sieht. Charrère: „Der Fumin ist wild und nicht gleich für jedermann zugänglich.“

Teure Trauben ...

Renato Anselmet: „Unser Problem sind die hohen Produktionskosten. Wir haben kaum Möglichkeiten diese zu senken. Nur wenig kann maschinell erledigt werden, und Handarbeit kostet nun einmal. Unsere Weinberge liegen zwischen 600 und 900 Metern über Meer und sind oft weit voneinander entfernt. Dadurch verlieren wir natürlich viel Zeit. Wir benötigen durchschnittlich 1300 Arbeitsstunden pro Hektar, während in der Toskana 400 Stunden üblich sind.“

Gianluca Telloli (Önologe der Kellereigenossenschaften Coenfer in Arvier und Cave du Vin Blanc de Morgex et de La Salle): „Die sechs Kellereigenossenschaften sind noch relativ jung im Vergleich zu anderen Gegenden Italiens. Vor dem Zusammenschluss vinifizierten die Bauern selbst ihre Trauben, die Qualität war eher schlecht als recht, abgefüllt wurde fast nichts. Um nicht noch mehr Rebfläche zu verlieren, hat die Regionalregierung die Gründung der Genossenschaften stark gefördert.“

Dino Darensod (Cave des Onze Communes): „Gegründet wurde unsere Genossenschaft im Jahr 1984 mit Unterstützung der Region. Sie hat damals fünf Kellereien gebaut und sie als Leihgabe an die Genossenschaften vergeben. Noch heute gehört unsere Kellerei der Region.“ Gianluca Macchi, Direktor der Cervim (siehe Kasten): „Es besteht ein gutes Gleichgewicht zwischen den Kellereigenossenschaften und den Privatkellereien. Obschon die Genossenschaften oft einen schlechten Ruf haben, erzeugen die Kellereien im Aostatal eine gute, sogar exzellente Qualität.“

Vincent Grosjean: „Ein großes Problem für den professionellen Weinbau ist die starke Parzellierung der Rebberge. Da die meisten Familien sehr kinderreich waren, wurde das Land in viele kleine Parzellen aufgeteilt, und wenn man heute ein Stück Land kaufen möchte, muss man mit unzähligen Besitzern verhandeln. Es ist schwierig, seinen Betrieb zu vergrößern. Um fünf Hektar Land zusammenzukaufen, mussten wir mit 22 Besitzern verhandeln. Das kostet Zeit und vor allem Nerven. Momentan liegen die Preise bei rund 200 000 Euro pro Hektar unbewirtschaftetes Land.“

Holzschnitzerei ist im Aostatal verbeiteter Beruf und Zeitvertreib (Foto: Merum)

Hauptberufliche Weinproduzenten sind im Aostatal die Ausnahme. In wirtschaftlich schwierigen Weinregionen ist dies oft der Fall, da sie größere – beispielsweise auswärtige – Weinunternehmer nicht anziehen. Andererseits ist es gerade den Freizeitwinzern zu verdanken, wenn unwirtschaftliche Lagen vor dem Verwildern gerettet werden. Die Cinque Terre sind dafür ein eindrucksvolles Beispiel.

Renato Anselmet: „Nur wenige Winzer betreiben den Weinbau hier hauptberuflich, manche füllen nur 1500 Flaschen ab.“ Michel Vallet (Feudo di San Maurizio): „Wer im Aostatal über 50 000 Flaschen abfüllt, ist bereits ein großer Betrieb.“ Vincent Grosjean: „Im Verband der Viticulteurs Encaveurs Vallée d’Aoste sind 36 kleine Produzenten zusammengeschlossen. Von diesen betreiben 15 den Weinbau hauptberuflich. Zu diesen kommen die sechs Kellereigenossenschaften. Außerdem haben wir noch das Institut Agricole und zwei, drei kleine Winzer, die sich unserem Verband nicht angeschlossen haben. Es gibt also rund 45 Erzeuger, die abfüllen und ihr eigenes Etikett vermarkten. Reine Abfüller, die Wein zukaufen, gibt es im Valle d’Aosta nicht.“

Grosjean, Präsident der Winzervereinigung Viticulteurs Encaveurs Vallée d’Aoste, schätzt, dass seine Mitglieder rund 750 000 Flaschen abfüllen und insgesamt 100 Hektar bewirtschaften: „Ich beobachte mit großer Freude, dass auch viele junge Winzer nachkommen, die den Weinbau zunächst vielleicht nur nebenberuflich betreiben, aber wer weiß, es könnte eines Tages ja ihre Haupteinnahmequelle werden.“

Wer hier im Haupterwerb winzern will, muss wirklich gut sein. Er muss in der Lage sein, aus seinen Trauben einen anständigen Wein zu keltern und zudem diesen zu einem lohnenden Preis abzusetzen. Denn vor Selbstausbeutung schützt auch im Aostatal nur die Selbstvermarktung! Bedenkt man, dass die Weinbauern in Morgex 1,70 Euro pro Kilo Trauben erhalten und die in Arvier zwei Euro, dann wird klar, dass der Hektarverdienst tiefer ist als die Kosten.

Gianluca Telloli: „Die Hektarerträge schwanken zwischen 7000 und 10 000 Kilo pro Hektar. Ein Weinbauer kann somit bis zu 17 000 Euro pro Hektar verdienen.“ Abzüglich Spesen bleiben dem Winzer weit unter zehn Euro pro Arbeitsstunde. Diese Vergütung mag für Hobbywinzer oder Rentner akzeptabel sein, aber für Vollzeitwinzer reicht das nie.

... günstige Weine

Die Weinpreise hier sind alles andere als furchterregend. Für den roten Torrette muss der Privatkunde zwischen fünf und acht Euro die Flasche rechnen, für einen Blanc de Morgex um die sieben Euro. Angesichts der außergewöhnlichen Produktionskosten sind das überaus gewöhnliche Preise.

Mont Blanc (Foto: Merum)

Daniele Domeneghetti (Institut Agricole Régional): „80 Prozent des Weins wird in der Region selbst verkauft, vorwiegend an Touristen. Wir brauchen wenig Marketing und externe Kommunikation, da der Direktverkauf fast die gesamte Produktion absorbiert.“ Das Aostatal zählt fast zwei Millionen Touristen jährlich. Im Sommer wie im Winter strömen sie zum Wandern, Rafting oder zum Skifahren in die Region. Wollte jeder dieser Touristen auch nur eine einzige Flasche mitnehmen, gäbe es – mehr als 1,7 Millionen Flaschen werden nicht abgefüllt – Streit.

Exportiert wird bisher wenig, auch wenn die Produzenten kommerziellen Kontakten mit ausländischen Importeuren absolut nicht abgeneigt wären. Das Problem ist jedoch, dass sie von kommerziellen Angelegenheiten und von Marketing keine Ahnung haben, wurde ihnen der Wein doch immer von der Privatkundschaft aus dem Keller getragen.

Weinbau und Tourismus sind eng miteinander verknüpft. Geht der Tourismus zurück, sind die Winzer direkt davon betroffen. Andererseits kommt den Winzern eine wichtige Rolle als Landschaftspfleger zu. Wäre die Landschaft des Aostatals nicht so schön, hätte dies sicher auch auf den Tourismus negative Auswirkungen. Gianluca Telloli: „Die Winzer im Aostatal haben nicht nur die Aufgabe, Wein zu erzeugen, sondern sie müssen gleichzeitig die Schönheit der Landschaft bewahren, die für die Einwohner eine der wichtigsten Einnahmequellen ist. Ohne den Tourismus kann die Weinwirtschaft nicht leben, und ohne die Weinberge wäre die Landschaft nur halb so schön.

Vincent Grosjean: „Es ist ein großer Vorteil, dass wir dank des Tourismus nie große Absatzschwierigkeiten hatten. Der Direktverkauf ist jedoch nicht die optimale Lösung, denn unsere Weine bleiben auf diese Weise größtenteils hier im Tal. Es wäre wichtig, neue Märkte zu erschließen, um so wiederum neue Touristen generieren zu können. Die Weine sollten bei den Konsumenten Neugier auf unsere Region wecken.“

Costantino Charrère: „Bis vor 15 Jahren wurde der Großteil des Weines für den Eigenkonsum erzeugt. Erst langsam hat sich das Qualitätsdenken durchgesetzt. Wir dürfen aber bei diesen Produktionskosten auch nichts anderes als Qualität erzeugen, denn mit anderen Weingebieten sind wir preislich ohnehin nicht wettbewerbsfähig. Jahrelang haben die Winzer gar nicht über Export nachgedacht, langsam beginnen sie aber, neue Märkte zu erschließen.

Mittlerweile haben die Winzer begriffen, dass sie zusammenarbeiten müssen, und heute funktioniert dieser Austausch. Wir können voneinander lernen und müssen uns auch in Notlagen helfen. Hier in den Bergen ist man auf die Hilfe des Nachbarn angewiesen.“

Gianluca Telloli: „Ich sehe eine blendende Zukunft für unsere Weine. Dies vor allem deshalb, weil sich der italienische Markt erst seit einiger Zeit für uns interessiert und dort noch viel Absatzpotenzial schlummert. Die Weinliebhaber, die heute Valle d’Aosta DOC kaufen, haben bis gestern vielleicht Südtiroler Weine gekauft. Wir müssen in der Lage sein, die Qualitätsansprüche dieser Kunden zu befriedigen. Sicher, wir können noch viel vom Qualitätsniveau unserer Kollegen im Südtirol lernen, aber gleichzeitig können wir versuchen, die Neugier bei den Verbrauchern zu wecken und sie zu animieren, auch mal etwas anderes zu probieren."

Die Regionsverwaltung unterstützt den Weinbau und die Qualitätsproduktion mit finanziellen Mitteln, wie sie in Italien in diesem Ausmaß nur Regionen mit Sonderstatus zur Verfügung stehen. So hilft die Regionalregierung den privaten Winzern beim Aufbau ihrer Kellereien mit 50 Prozent Kostenbeteiligung: Wir trafen kaum einen Winzer, der bei unserem Besuch nicht die Maurer im Haus gehabt hätte!

Gebäude und Einrichtung der Kellereigenossenschaften sind hingegen komplett von der Regierung finanziert und werden von der Genossenschaft gratis genutzt, quasi als Leihgabe (Ausnahme ist lediglich die Cantina Sociale von Donnas, sie wurde 1971 von den Winzern gegründet). Zudem stellt die Region allen Weinproduzenten ihr Labor für kostenlose Weinanalysen zur Verfügung.

Der nördliche Teil der Appellation Donnas besteht aus Weinparzellen% die mit Bienenfleiß in den Schuttkegel eines weit zurückliegenden Bergsturzes gegraben wurden (Foto: Merum)

Die Weinwirtschaft des Aostatals ist eines der wenigen Beispiele, wo die Politik mit öffentlichen Geldern eine positive Entwicklung ausgelöst hat. Die Aosta-Regierenden greifen nicht in die Entscheidungen der Unternehmer ein, sie stehen ihnen lediglich bei. Will ein Winzer einen Keller bauen, dann bezahlt die Region die Hälfte der Kosten. Will eine Gruppe von Winzern eine Genossenschaft gründen, dann wird ihnen eine Kellerei „geliehen“. Die für die Qualitätsproduktion unentbehrlichen, kostspieligen Analysen erledigt das Labor der Region kostenlos.

Dank dieser Politik erfährt der Weinbau eine massive Förderung, denn nicht nur wird der Nachteil der hohen Produktionskosten etwas aufgewogen, auch die Konkurrenzfähigkeit wird in qualitativer Hinsicht verbessert. Neben Südtirol ist Aosta ein Vorzeigefall, wenn es darum geht, Beispiele für vorbildliche Förderung des Weinbaus und damit der Landschaftspflege zu nennen.

Eines ist sicher: Wenn unsere Reiseroute uns das nächste Mal bei Aosta vorbeiführt, werden wir nicht mehr nur den üblichen Agip-Panino-Kurzhalt absolvieren, sondern eine echte Pause einlegen, ein bisschen Fontina, Nebbiolo und Torrette einkaufen und uns vielleicht sogar im Ristorante AD Gallias in Bard verwöhnen lassen.

Dora Baltea

Die Dora Baltea entsteht bei Entrèves oberhalb von Courmayeur aus der Vereinigung zweier Schmelzwasserbäche von Gletschern auf der italienischen Südostseite des Montblanc-Massivs. Auf ihrem Weg zum Po durchfließt die Dora Baltea in östlicher Richtung das gesamte Aostatal, knickt hinter Saint-Vincent nach Südosten ab, durchbricht die Talenge von Montjovet und erreicht nach Talaustritt das Piemont mit der Stadt Ivrea. Ab dort bis zum Zusammenfluss mit dem Po begleitet sie die Region Canavese und mündet nach insgesamt 160 km bei Crescentino in den Po.

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